Die Anti-Atom-Bewegung in Münster

In den 1970er Jahren plante die Atomindustrie den Bau von bis zu 200 Atomkraftwerken (AKW) in der Bundesrepublik. Auch in Münster war der Bau eines AKW – auf dem Gelände des heutigen Naturschutzgebiets Rieselfelder – im Gespräch.

Dass viele Pläne der Atomindustrie im Sande verlaufen sind und  dass die Fertigstellung der Plutoniumfabrik Wiederaufbereitungsanlage (WAA) weder im niedersächsischen Gorleben noch im bayrischen Wackersdorf durchgesetzt werden konnte, dafür hat nicht zuletzt der entschlossene Widerstand von großen Teilen der Bevölkerung gesorgt.

Heute gibt es noch 17 Atomkraftwerke in Deutschland. Im münsterländischen Gronau steht die in den letzten Jahren drastisch ausgebaute Urananreicherungsanlage (UAA) und im benachbarten Ahaus das Brennelementezwischenlager (BEZ) [1], eine Halle, die von der Atomindustrie als Atommüll-„Zwischenlager“ genutzt wird. Fast täglich und meist unbemerkt fahren Atomtransporte durch die Republik, oft auch durch Münster.

Die Wurzeln der Anti-Atombewegung in Münster lassen sich in den 1950er Jahren finden.

Die Anti-Atomtod-Bewegung

Nachdem die „Wiederbewaffnung“ Westdeutschlands 1955 gegen den Willen der Bevölkerungsmehrheit durchgesetzt worden war, zielte die Bundesregierung auf die Bewaffnung der Bundeswehr mit Atomwaffen. Fürsprecher dafür waren insbesondere Bundeskanzler Adenauer und Verteidigungsminister Strauß. Aber auch in weiten Teilen der CDU/CSU-Bundestagsfraktion fand dieser Vorschlag Beifall.

Dagegen regte sich bundesweit Widerstand. Nach der Veröffentlichung eines Appells von 18 Göttinger Professoren „Gegen die Atomaufrüstung der Bundeswehr“[2], entstanden im Frühjahr 1958 in vielen Städten Arbeitsausschüsse zum „Kampf gegen den Atomtod“. In Münster gründete sich als Teil dieser Protestbewegung der „Studentische Arbeitskreis für ein kernwaffenfreies Deutschland“. Sprecherin dieses „Anti-Atomtod-Ausschusses“ wurde das damalige Münsteraner Uni-AStA-Mitglied Ulrike Marie Meinhof.[3] Die spätere Konkret-Kolumnistin und das noch spätere Gründungsmitglied der „Roten Armee Fraktion“ (RAF) verstand sich in ihrer Zeit als Studentin an der Westfälischen Wilhelms-Universität (WWU Münster) als christliche Humanistin, bevor sie 1959 Mitglied der seit 1956 verbotenen Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) wurde.

Gemeinsam mit KommilitonInnen und außeruniversitären AktivistInnen, wie zum Beispiel mit dem Münsteraner Antifaschisten Paul Wulf (1921-1999), organisierte Ulrike Meinhof 1958 Demonstrationen auf dem Hindenburgplatz und Mahnwachen am Fürstenberghaus. Motto: „Dozenten und Studenten stehen für ein kernwaffenfreies Deutschland“.

Getragen wurde die Anti-Atomtod-Bewegung in Münster und bundesweit von Studierenden, AkademikerInnen, Gewerkschaften, ChristInnen, KommunistInnen und Teilen der SPD.[4] 

Wie die anderen Gruppen und Organisationen der weltweit aktiven Friedensbewegung hatte die Anti-Atomtod-Bewegung allerdings die Gefahren der „zivilen“ Atomenergienutzung ignoriert.

Auch die seit 1960 alljährlich organisierten Ostermärsche zielten zunächst nur auf Atomwaffen und militärische Anlagen. Die „friedliche Nutzung der Kernenergie“ war dagegen in den 1960er Jahren gesellschaftlich weitgehend akzeptiert. „Kernkraftwerke wurden in Deutschland wie weltweit als sichere, wirtschaftliche und umweltfreundliche Möglichkeiten zur Bewältigung des Energieproblems angesehen.“[5]  

Die Anti-Atom-Bewegung als Teil der Neuen Sozialen Bewegungen

Um den erwarteten Energiebedarf nach der Ölkrise 1973 zu sichern, strebten die im Bundestag vertretenen Parteien einen raschen Ausbau der Kernenergie an.

Unter dem Motto „Lieber heute aktiv als morgen radioaktiv“ fanden dagegen die ersten großen Protestaktionen der sich entwickelnden Anti-Atom-Bewegung statt, die immer mehr Zuspruch in der Bevölkerung fanden. Die Bewegung richtete sich gegen den geplanten Bau des Atomkraftwerks in der badischen Gemeinde Wyhl. Es waren nicht nur Linke, sondern auch „konservative Bauern, Winzer und Dörfler im Elsass und in Baden, die 1974 die Atomkraft in Frage stellten“, so Horst Blume. „Sie sprengten auch die nationalstaatliche Sichtweise Frankreich/BRD und waren deswegen sehr ‚fortschrittlich’. Langfristig gaben sie den Anstoß dafür, dass die Marxisten wegen ihrer Technikgläubigkeit kritisiert wurden. Der damalige Ministerpräsident Filbinger ist nicht nur wegen seiner Nazirolle unter Beschuss geraten, sondern vorher wurde seine Autorität wegen seines Eintretens für die Atomindustrie untergraben.“ Es habe diverse handgreifliche Tumulte beim Besuch des „Landesvaters“ gegeben, so der Sprecher der BI Hamm. Nach jahrelangen Auseinandersetzungen, Unterschriftensammlungen, Demonstrationen und Grenzblockaden wurde der Bauplatz in Wyhl am 28. Februar 1975, dem Tag nach Beginn der Bauarbeiten, nach einer Kundgebung mit 28.000 TeilnehmerInnen gestürmt.[6] Tausende AtomkraftgegnerInnen besetzten das Baugelände. Zwar wurde es einige Tage später von der Polizei geräumt, nach einer Kundgebung kam es aber wenige Tage später zu einer zweiten Bauplatzbesetzung, die über acht Monate andauern sollte. Der Bau des AKW Wyhl wurde schließlich durch die Aktionen und die nachfolgenden Gerichtsverhandlungen verhindert.

Der erfolgreiche Widerstand gegen das „KKW Wyhl“ wurde zum Vorbild für Proteste gegen den Bau weiterer Atomanlagen. Die Anti-Atom-Bewegung entwickelte sich nun zu einer der größten und erfolgreichsten Neuen Sozialen Bewegungen in der Bundesrepublik.

Im Fokus der Bewegung und bisweilen auch der Medien standen zum Beispiel der Widerstand gegen den Bau des AKW Brokdorf ab 1976, gegen den „Schnellen Brüter“ in Kalkar 1977 und gegen den Bau der WAA in Gorleben und später in Wackersdorf. Während in Brokdorf nach zeitweise bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen zwischen mehreren tausend DemonstrantInnen und der Polizei das Atomkraftwerk 1986 ans Netz ging, konnte der Bau der Wiederaufbereitungsanlage in Gorleben nach Großdemonstrationen mit mehr als 100.000 TeilnehmerInnen und zahlreichen Sabotageaktionen durch AnwohnerInnen und AktivistInnen nicht durchgesetzt werden.

Die Anti-Atom-Szene in Münster

Seit Entstehung der Anti-Atom-Bewegung in der Bundesrepublik beteiligten sich immer auch Menschen aus Münster an den Protesten. Als Kontrast zur Tristesse der katholischen Provinzmetropole und CDU-Hochburg war in den 1970er Jahren vor allem im studentischen Milieu der Universitätsstadt eine bunte „Parallelgesellschaft“ entstanden. Hier tummelten sich ehemalige AktivistInnen der 1968 zur Massenbewegung herangewachsenen APO (Außerparlamentarische Opposition), Ökos, Alternative, Spontis, AnarchistInnen, Mitglieder des Kommunistischen Bundes (KB) und viele andere.

Einige Anti-Atom-AktivistInnen hatten zuvor schon in Bürgerinitiativen (BIs) Erfahrungen gesammelt, die ab Ende der 1960er Jahre auch in Münster entstanden waren, etwa um sich gemeinsam gegen Straßenbauprojekte und die Erhöhung der Miet- und Busfahrpreise zu wehren.

Prinzipien solcher Bürgerinitiativen waren „Überparteilichkeit, Ein-Punkt-Bewegung, gewaltfrei, ziviler Ungehorsam, das Bemühen um eine verständliche und nachvollziehbare Vermittlung dessen, was wir wollen“, so Horst Blume.

Blume, der 1975 die BI Hamm mitgründete und bis heute aktiv in der Anti-Atom-Bewegung ist, erinnert sich: „Gerade im Münsterland spielte die Westfälisch-Lippische Landjugend (WLL) eine besonders atomkritische Rolle und gründete BIs mit uns zusammen. Der WLL-Sitz war in Münster. In der WLL-Zeitung ‚Moment Mal’ habe ich übrigens in den 70ern Artikel ‚Was ist Anarchismus?’ usw. geschrieben. Aus der politisierten atomkritischen Landjugendbewegung ist die ABL und Bioland entstanden..“[7]

Der AKU Münster

Mit der Gründung des Arbeitskreis Umwelt (AKU) entstand ab 1976/1977 auch in Münster ein organisatorischer Zusammenschluss, in dem sich Menschen kollektiv und selbstorganisiert für den sofortigen Baustopp und die sofortige Stilllegung aller Atomanlagen engagierten.

So wie die mindestens 14 weiteren seit seiner Gründung in Münster ins Leben gerufenen unabhängigen Anti-Atom-Gruppen, organisierte sich der AKU basisdemokratisch.

Gemeinsame Aktionen und wichtige Entscheidungen wie Castorblockaden wurden auf den regelmäßig stattfindenden landes- bzw. bundesweiten Anti-Atom-Konferenzen diskutiert und im Konsens beschlossen.

„Eine Trennung zwischen der ökologischen Diskussion und einer grundsätzlichen linken, basisdemokratischen oder anarchistischen Haltung findet dabei meistens nicht statt. (...) Ein Teil der Atomkraftgegner akzeptiert die strafbare Sachbeschädigung (z. B. an Bahnanlagen oder Castor-Transportstraßen) und sieht sie nicht als Gewalt an, solange dadurch keine Menschen gefährdet werden.“[8]

Erste Betätigungsfelder des AKU waren die Organisation gemeinsamer Fahrten zu den Demonstrationen in Grohnde, Brokdorf und Kalkar. Früh wandten sich die AKU-Mitglieder auch den regionalen Atomanlagen zu und unterstützten zum Beispiel die 1975 gegründete Bürgerinitiative Umweltschutz Hamm. Diese bis heute existierende BI wehrte sich gegen den Bau und Betrieb des Thoriumhochtemperaturreaktors (THTR) im westfälischen Hamm-Uentrop.

Seit 1975 gab es in Münster eine „Hamm-Gruppe“ und dann immer neue „Generationen“ des Widerstandes, so Horst Blume. „Ich habe hunderte von Zeitungsartikeln aus den Jahren 1975/76, wo die Münsteraner eine Rolle spielen. Sie waren insbesondere in der Anfangszeit eine Art auswärtige ‚Vermittler’ zwischen den Fronten, da wir ja als Einheimische die Einmischung auswärtiger Maos und Co. vehement ablehnten. Die netten Münsteraner Studenten haben sich damals richtig Mühe gegeben, eine Moritat und Lieder eingeübt und sind damit über die Dörfer gezogen. Das war etwas ganz besonderes!“ Wichtig sei auch die Münsteraner Band Fiedel Michel gewesen, die einen Zugang zu bisher unpolitischen Menschen fand und so die anfängliche Isolation im konservativen Münsterland ein Stück weit aufgebrochen hat.

Auch die im Oktober 1977 gegründete BI „Kein Atommüll in Ahaus“ erhielt Unterstützung von Anti-Atom-Gruppen aus Münster. Gemeinsam engagierten und engagieren sich die münsterländischen Anti-Atom-Initiativen bis heute gegen das Atommülllager BEZ und die Urananreicherungsanlage (UAA) in Gronau.

1980 gründete der AKU das Umweltzentrum Münster und legte damit den Grundstein für die Entwicklung des noch heute existierenden Umweltzentrum-Archivs. Es entwickelte sich seitdem zu einem der größten Archive der Anti-Atom-Bewegung.

Die Münsteraner Hamm-Gruppe als „Nach-Tschernobyl-Initiative“

Durch den Super-GAU in Tschernobyl wurde 1986 Millionen Menschen schlagartig bewusst, wie gefährlich die „friedliche Nutzung der Kernenergie“ ist. Viele wurden durch diese Katastrophe radikalisiert, neue Bürgerinitiativen, „Mütter gegen Atomkraft“ und andere so genannte „Nach-Tschernobyl-Initiativen“ wurden gegründet. In diesem Zusammenhang entstand im Umweltzentrum Münster 1986 auch eine neue „Hamm-Gruppe“. Sie verstand sich zunächst als „Standortinitiative“ gegen den THTR (Thorium-Hochtemperatur-Reaktor) in Hamm-Uentrop. Demonstrationen und Aktionen der befreundeten BI Hamm wurden unterstützt, Informationsveranstaltungen und eigene direkte gewaltfreie Aktionen durchgeführt. 1989 konnte sich die BI Hamm gemeinsam mit Anti-Atom-Aktiven auch der Münsteraner „Hamm-Gruppe“ über das Ende des THTR und 1991 über die Sprengung des THTR-Kühlturms freuen.  

Die WigA

Im Laufe der Jahre hatte die Münsteraner „Hamm-Gruppe“ ihre Schwerpunkte immer weiter ausgebaut. Ab 1987/88 konzentrierte sie sich zunehmend auf das Themenfeld Atomtransporte sowie auf andere Atomanlagen in der Region, wie die UAA in Gronau, das AKW und die Brennelementefabrik im emsländischen Lingen und das BEZ in Ahaus. Die Gruppe legte ihren Schwerpunkt bewusst auf die Arbeit „vor der Haustür“, da sie die Fixierung der Anti-Atom-Bewegung auf Widerstandsorte wie Gorleben oder Wackersdorf kritisierte. Nach der Stilllegung des THTR wurde deshalb 1989 ein neuer Name gefunden, der das neue Selbstverständnis deutlich machen sollte: „WigA“ (Widerstand gegen Atomanlagen).

Die WigA definierte sich als offene, unabhängige und selbstbestimmt agierende Gruppe, die „mit öffentlichkeitswirksamen Aktionen Druck auf die BetreiberInnen von Atomanlagen und auf verantwortungslose PolitikerInnen ausüben“ und dabei ihrer „Phantasie und Spontaneität mit Demonstrationen, Besetzungen, Kundgebungen und kreativen Störaktionen des ’Normalbetriebs’ der Atomanlagen und Atommülltransporte freien Lauf“[9] lassen wolle“.

„Die Konzentration auf Atomtransporte lief parallel zu der Neuorientierung der gesamten Anti-AKW-Bewegung. Die politische Arbeit sollte von den Anlagen und Bauplätzen auf die Transporte, die ‚Lebensader der Atomindustrie’, verlegt werden.“[10]

Es sei darum gegangen, der Anti-AKW-Bewegung ein Widerstandkonzept zu erarbeiten, das alle Standorte miteinander verknüpft und „dabei gleichzeitig den Atomstaat überall angreifbar macht“, so der WigA-Aktivist Markus Beinhauer.

Die WigA entwickelte sich zur aktivsten Anti-Atom-Gruppe der Stadt. WigA-Mitglieder waren 1989 beteiligt an der Herausgabe und Gründung der noch heute bundesweit erscheinenden anti atom aktuell (aaa) - „Monatszeitung für die sofortige Stilllegung aller Atomanlagen“. Die heute im Wendland herausgegebene aaa wurde bis 1993, der seit 1986 erscheinende bundesweite Atomkraft Nein! Kalender wurde von 1988 bis 1992, und von 2001 bis 2003 von WigA-Mitgliedern im Münsteraner Umweltzentrum produziert. 

Im Frühjahr 1990 wurde nach einer Großdemonstration in Gorleben der Bauplatz der geplanten Pilotkonditionierungsanlage (PKA) von 300 AtomkraftgegnerInnen besetzt. Auch die WigA beteiligte sich an dieser Aktion, die zehn Jahre nach der 33tägigen Besetzung des Gorlebener Bohrlochs 2004 und der Errichtung der „Republik Freies Wendland“ durch 3000 AktivistInnen stattfand.

Die MünsteranerInnen errichteten 1990 eine eigene Hütte auf dem PKA-Gelände: „WigA-hausen“, ein Teil der bundesweiten Öffentlichkeitsarbeit für die Besetzung wurde über das Umweltzentrum Münster koordiniert. Die zweite „Republik Freies Wendland“ wurde nach wenigen Tagen durch die Polizei geräumt.

Am 11. März 1990 fanden auf dem Baugelände des AKW Stendal und kurze Zeit später vor dem Atommüllendlager in Morsleben die ersten deutsch-deutschen Anti-Atom-Demonstrationen auf dem Hoheitsgebiet der nicht mehr existenten DDR statt. Die WigA beteiligte sich an diesen Demonstrationen und vertiefte die Kontakte, die es vor der Wende z. B. schon mit AktivistInnen aus der Ost-Berliner Umweltbibliothek gab.

In den folgenden Jahren organisierte die Gruppe auch Störaktionen gegen Transporte von abgebrannten Brennelementen aus Hamm nach Ahaus.

Im Dezember 1993 wurde das „Münsteraner Bündnis gegen Atomtransporte“ von der WigA mitgegründet. Ein Bürgerantrag an den Rat der Stadt Münster, den Transport von Atommüll durchs Stadtgebiet abzulehnen, hatte am 2. November 1995 Erfolg.

Blockadeversuche im Hauptbahnhof Münster scheiterten dagegen oft an der mangelnden Beteiligung. 1994 konnte ein Transport zur Umkehr und Umleitung über Coesfeld gezwungen werden. Der Transport von insgesamt 305 Atommüllbehältern aus Hamm-Uentrop über Münster ins BEZ Ahaus konnte letztlich nicht verhindert werden.

Als Ende 1994 die Pläne für eine Erweiterung der BEZ Ahaus bekannt wurden, kam es am 17. Dezember 1994 zu einer von der WigA vorbereiteten Platzbesetzung auf dem für die Erweiterung der Anlage geplanten Grundstück. Nach der Räumung durch die Polizei kam es am folgenden Tag zu einem ersten Sonntagsspaziergang mit 80 TeilnehmerInnen. Die Aktion wurde von der WigA als „deutliches Zeichen gegen die Atompolitik des Landes Nordrhein-Westfalen und der Bundesrepublik“[11] gewertet.

Durch die Sonntagsspaziergänge sollte sich der Widerstand vor Ort etablieren und die Ahauser Bevölkerung einbezogen werden. „Von nun an gibt es jeden dritten Sonntag im Monat einen Sonntagsspaziergang. Mal wird die Einfahrt zum Lager eingeseift nach dem Motto ’Die BEZ schmiert die Stadt - wir schmieren das BEZ’, ein anderes Mal sorgen Weihrauch, Mehl und Rauchbomben dafür, das BEZ zu vernebeln, da die Betreiber die Bevölkerung vernebeln.“[12]

Am 17. Juni 1995 kam es zu einer zweiten Platzbesetzung in Ahaus. „Die zeitlich begrenzte Aktion sollte den Protest gegen die geplante Erweiterung der Anlage zum Ausdruck bringen und einen Dialog mit der Betreibergesellschaft des Lagers herausfordern.“[13] Der Platz wurde geräumt und 20 Personen vorübergehend festgenommen.

Wenige Wochen zuvor, am 25. April 1995, hatte die bundesweite Anti-Atom-Bewegung mit den massenhaften direkten gewaltfreien Aktionen gegen den Castortransport nach Gorleben eine neue Blüte erlebt. Neun Jahre nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl habe der Staat gezeigt, dass er sein Atomprogramm nur mit einem Heer von Wasserwerfern, Räumpanzern und prügelnden PolizistInnen durchsetzen könne, so ein WigA-Mitglied.

„Trotz aller Grabgesänge waren Unentwegte bewegt geblieben. An fast allen Standorten von Atomanlagen blieben Initiativen aktiv, die überregionale Zusammenarbeit blieb erhalten.“[14]

Die in bundesweite Strukturen eingebundene WigA hatte sich an den Aktionen gegen den Castor beteiligt.

Zum 10. Jahrestag der Katastrophe von Tschernobyl kam es vom 26. bis zum 28. April 1996 zu einem Ahauser Aktionswochenende, u. a. fand eine Fahrraddemo von Münster nach Ahaus und ein von der WigA organisiertes Widerstandscamp an der BEZ-Anlage statt. Am Widerstandscamp der WigA nahmen 200 Menschen teil. „Die Gruppe hatte zu diesem Zeitpunkt entscheidenden Anteil daran, dass Ahaus in der bundesweiten Bewegung von Interesse war. Sie forcierte das Thema stets auf den Bundeskonferenzen der Anti-AKW-Bewegung und knüpfte Kontakte in der gesamten Bundesrepublik“, so Markus Beinhauer.

Am 27. April 1996 kam es in Ahaus zu einer bundesweiten Demonstration mit 3.500 TeilnehmerInnen.

Als im Mai 1996 der zweite Castortransport ins Wendland bevorstand, wurde in Münster erneut für Aktionen mobilisiert. Der Schwerpunkt lag wieder auf Widerstandsaktionen vor Ort, da der Transport auch durch Münster rollen sollte.

Das „Münsteraner Bündnis gegen Atomtransporte“, in dem auch die WigA mitarbeitete, erklärte „in Münster und Gorleben gegen die Atomtransporte, für eine andere Energiepolitik“[15] einzutreten.

Nach dem dritten Castortransport nach Gorleben wurde deutlich, dass der nächste Transport nach Ahaus gehen könnte. „Weil Gorleben momentan ein heißes Pflaster ist, soll der nächste Castor-Transport aus Neckarwestheim in Ahaus eingelagert werden. (...) Wenn wir Gorleben teuer machen, Ahaus aber billig davon kommen lassen, haben wir aus einem Teilerfolg (dem Widerstand gegen den 3. Castor) eine Niederlage gemacht.“[16]

Für die Menschen in der WigA begann ein bundesweiter Marathon mit Infoveranstaltungen. Die Frühjahrskonferenz der Anti-Atom-Bewegung fand im Mai 1997 in Münster statt. 200 Delegierte entschieden, dass „die Kampagne gegen Atomtransporte mit einer politischen Offensive in Ahaus weitergeführt“ wurde. „Die Hoffnung der Atomindustrie, in Ahaus ohne Widerstand einlagern zu können, wird sich als Trugschluss erweisen.“[17]

Diese Offensive habe sich u. a. in Aktionen, wie dem Widerstandscamp mit über 200 TeilnehmerInnen im August 1997, der Sternfahrt zum AKW Neckarwestheim im September 1997, um den Schulterschluss des Widerstandes von Ahaus und Neckarwestheim zu verdeutlichen und den Schienenaktionstagen am BEZ Ahaus mit 2000 TeilnehmerInnen im Oktober 1997, geäußert, so Beinhauer.

Am Ahauser Sonntagspaziergang im Februar 1998 beteiligten sich 4000, am Sonntagsspaziergang vor dem Castortransport im März 5000 Menschen.

„Für den Schutz des rollenden Atommülls war eine Streitmacht von über 20.000 PolizistInnen einkalkuliert, die das Münsterland ‚besetzen’ sollten. Das ungelöste Entsorgungsproblem der Atomindustrie wollte der Staat erneut dadurch lösen, dass Grundrechte außer Kraft gesetzt werden, und dass das öffentliche Leben lahmgelegt wird“, so ein WigA-Mitglied.

„Nachdem vielfache Kriminalisierungsversuche im Vorfeld fehlgeschlagen waren, versuchte es die Staatsmacht nun mit einem Trick: Der Castor kam am 20. März, statt wie geplant am 25. März 1998.“

Dennoch beteiligten sich mehrere tausend Menschen an Widerstandaktionen auf der Strecke sowie in und um Ahaus herum.

Die Polizei konnte nicht verhindern, dass der Castor auf dem Weg von Neckarwestheim zur Umladestation in Walheim stundenlang durch phantasievolle Aktionen aufgehalten und in Ahaus ein Bahnübergang durch eine Sitzblockade sieben Stunden lang besetzt wurde. „3.000 Menschen auf dem Bahndamm vor den Toren der Stadt konnten nur durch massive Gewalt einer Berliner Polizeitruppe von den Schienen geprügelt werden“, so ein Aktivist.

Am Tag nach dem „Tag X“ fand in Münster die als Auftakt geplante Großdemonstration mit 12.000 TeilnehmerInnen statt.

Die WigA blieb auch in den folgenden Jahren aktiv und beteiligte sich an den Aktionen in der Region und an den Demos gegen den jährlich durchgeführten Castortransport von La Hague nach Gorleben.

Eine ihrer am meisten aufsehenerregenden Aktionen gelang der Gruppe am 11. Dezember 2002:

In den frühen Morgenstunden passierte ein Castor-Transport mit hochradioaktivem Atommüll aus den Atomkraftwerken Stade und Krümmel auf dem Weg in die Wiederaufbereitungsanlagen (WAA) La Hague und Sellafield das Münsteraner Stadtgebiet. Nachts gegen 3.00 Uhr ketteten sich zwei Aktivisten der WigA im Stadtteil Gremmendorf an die Gleise der Güterumgehung, die durch die Stadtteile Gremmendorf, Mauritz und Hiltrup führt.[18] Die beiden Atomkraftgegner hatten ihre Arme mit Vorhängeschlössern in Stahlrohren unterhalb der Schiene angekettet, so dass es für die Beamten des Bundesgrenzschutzes vor Ort nicht möglich war, sie von der Schiene zu lösen.

Die unmittelbar nach Beginn der Aktion informierte Polizei veranlasste sofort den Stopp des Castor-Transports bei Sudmühle. Der Atommüllzug musste durch den Münsteraner Hauptbahnhof umgeleitet werden, da nicht absehbar war, wann die Strecke wieder passierbar sein würde.

Schon vor dieser gut vorbereiteten Ankettaktion hatte es in der Nacht vom 10. auf den 11. Dezember 2002 direkte gewaltfreie Aktionen gegen die Atomtransporte gegeben.

Am 11. Dezember passierten zwei Atommülltransporte Münster. Der erste Transport aus dem Atomkraftwerk Unterweser wurde um 0.10 Uhr von ca. 20 AtomkraftgegnerInnen im Hauptbahnhof Münster mit einer lautstarken Spontandemo auf dem Bahnsteig empfangen.

Der zweite Transport mit abgebrannten Brennelementen aus den Atomkraftwerken Krümmel und Stade passierte den Hauptbahnhof gegen 3.15 Uhr, weil auf dem ursprünglich vorgesehenen Güterumgehungsgleis im Osten Münsters an mehreren Stellen Anti-Castor-AktivistInnen protestierten.

Eine Presseerklärung des Münsteraner Bündnis „Stoppt Atomtransporte!“ vom 11. Dezember 2002:

„Das Münsteraner Bündnis 'Stoppt Atomtransporte!!' solidarisiert sich mit den Aktionen gegen die Atomtransporte durch das Münsterland. Sie zeigen, dass kein Atommülltransport heimlich durch Münster fahren kann.“

Ohne die Aktionen hätten die Medien die Transporte der hochradioaktiven Brennstäbe womöglich nicht erwähnt. So aber berichtete am 12. Dezember der WDR im Radio und im Fernsehen. Die Münstersche Zeitung widmete sich auf Seite 1 der „Trainstopping“-Aktion. Auch die Westfälischen Nachrichten informierten über dieses Ereignis. „Den hirnrissigsten und kürzesten Artikel lieferte am 12. Dezember wider besseren Wissens die regierungsnahe taz ruhr nrw. Die Atomtransporte seien ‚ohne größere Zwischenfälle in Nordrhein-Westfalen eingefahren.’ Begeisterte Kommentare zur Aktion finden sich dagegen im Internet bei de.indymedia.org“, so die Graswurzelrevolution.

Im Jahre 2003 war die WigA wieder Gastgeber für 200 Delegierte einer bundesweiten Konferenz der Anti-Atom-Bewegung.

2004 gründeten ehemalige WigA-AktivistInnen die - ebenso wie die WigA - bis heute aktiven Münsteraner Anti-Atom-Gruppen Pollux und SOFA (Sofortiger Atomausstieg).

Renaissance der Anti-Atom-Bewegung im Münsterland?

Nach einer mehr als 15-stündigen Fahrt rollten am 14. Juni 2005 gegen 2.30 Uhr die letzten sechs der insgesamt 18 Castor-Behälter aus dem ehemaligen Forschungsreaktor bei Dresden durch den Hintereingang des Atommülllagers im westfälischen Ahaus.[19] Auf der über 600 Kilometer langen Strecke kam es zu Protesten und direkten gewaltfreien Aktionen, an denen sich auch alle Münsteraner Anti-Atom-Gruppen beteiligt hatten.

„Um die 951 abgebrannten Brennelemente mit zwei Kilogramm Plutonium an den DemonstrantInnen vorbeizuschleusen, schreckte die Polizei vor lebensgefährlichen Manövern nicht zurück. Während der erste Transport, ohne Information der betroffenen Bevölkerung, durch die engen Gassen der an Ahaus angrenzenden Gemeinde Heek geschleust wurde, fuhr der dritte Konvoi mit ausgeschalteten Scheinwerfern zuletzt über einen Feldweg zu einem Hintereingang des Brennelementezwischenlagers (BEZ)“, so die Graswurzelrevolution.

Am 13. Juni 2005 demonstrierten rund 3.000 AktivistInnen in Ahaus.

„Angesichts der täglichen Gefahr einer Kernschmelzkatastrophe, angesichts der heute schon massiven Folgen des Uranabbaus, angesichts der wachsenden Atommüllberge gibt es nur einen einzigen verantwortbaren Weg: Wir brauchen einen Ausstieg, der diesen Namen wirklich verdient. Die AKWs müssen jetzt vom Netz, denn jeder Tag länger kann ein Tag zuviel sein“, so Jochen Stay von X-tausendmalquer.

An der Ahauser Demo gegen den ersten von drei Atommülltransporten von Dresden ins BEZ hatten am 30. Mai 2005 bei strömendem Regen 600 und am 6. Juni 2.000  Personen teilgenommen.

Die Zahl der DemonstrantInnen hat sich also innerhalb von zwei Wochen verfünffacht.

Matthias Eickhoff vom Aktionsbündnis Münsterland gegen Atomanlagen zog eine positive Bilanz: „Uns ist es gelungen, die Castortransporte im Vorfeld 18 Monate zu verzögern. Für uns war es eine kleine Renaissance: die größte Anti-Atom-Demo im Münsterland seit sieben Jahren.“

Die Anti-Atom-Szene in Münster heute

Am 3. Februar 2007 demonstrierten 400 AtomkraftgegnerInnen in Münster für den sofortigen Atomausstieg, gegen das Zwischenlager Ahaus und gegen die Uran­anreicherungsanlage Gronau.

„Die Demo war ein Anfang und zeigt zwei Jahre nach den Rossendorf-Ahaus-Transporten, dass der Widerstand im Münsterland weiter hellwach ist“, so SOFA-Sprecher Matthias Eickhoff.[20]

Bernd Drücke
 

Literatur:

  • Thomas Oelschläger, Kerstin Enning, Bernd Drücke (Hg.): Ahaus. Das Buch zum Castor, Verlag Klemm & Oelschläger, Ulm 1999, ISBN 3-932577-16-7
  • ...und auch nicht anderswo! Die Geschichte der Anti-AKW-Bewegung. Verlag Die Werkstatt, 1997, ISBN 3-89533-186-4
  • Atomkraft Nein! Kalender, Göttingen, Münster, Bremen u. a., 1976 ff.
  • anti-atom-aktuell, Münster u. a., 1989 ff.



[1] Vgl. Chronik des Brennelementezwischenlagers (BEZ) Ahaus, in: Thomas Oelschläger, Kerstin Enning, Bernd Drücke (Hg.), Ahaus. Das Buch zum Castor, Verlag Klemm & Oelschläger, Ulm 1999, S. 9 ff.

[2] Vgl.: 1957-1959 Ulrike Meinhof. Eine vergessene Geschichte des Widerstands im Adenauer-Deutschland, in: Dieter Keiner/Bernd Drücke, Twenty Years After: Deutscher Herbst 1977, Seminarreader, Uni Münster 1997, Seite 234 ff.

[3] Vgl. „Ulrike Meinhof“, in: Wikipedia, die freie Enzyklopädie, www.de.wikipedia.org

[4] Vgl. Reimar Paul: Die Anti-AKW-Bewegung: Wie sie wurde was sie ist, in: Redaktion Atom Express (Hg.), ... und auch nicht anderswo. Die Geschichte der Anti-AKW-Bewegung, Verlag Die Werkstatt, Göttingen 1997, S. 17

[5] Anti-Atomkraft-Bewegung, aus: Wikipedia, die freie Enzyklopädie, www.de.wikipedia.org

[6] Vgl.: Wolfgang Ehmke, Bewegte Zeiten: Von Wyhl bis zum Tag X, in: Redaktion Atom Express (Hg.), ... und auch nicht anderswo, a.a.O., S. 34 ff.

[7] Brief von Horst Blume an Bernd Drücke, 14.04.2007

[8] Anti-Atomkraft-Bewegung, aus: Wikipedia, a.a.O.

[9] WigA-Selbstdarstellung, Münster 1995

[10] Markus Beinhauer: Der Widerstand im Münsterland - Das Beispiel WIGA, unveröffentlichtes Manuskript, Münster 1999.

[11] Westfälische Nachrichten, Münster 19.12.1994

[12] Umweltzentrum (Hg.): BEZ-Ahaus, Broschüre, Münster 1997

[13] WigA-Selbstdarstellung, Münster 1995

[14] Wolfgang Ehmke, in: „Restrisiko“, Gorleben 1995

[15] Flugblatt, Münster, Februar 1997

[16] Umweltzentrum aktuell, Münster, Mai 1997

[17] Presseerklärung vom 25.5.1997

[18] Bernd Drücke: Trainstopping. Die Nacht im Gleisbett, in: Graswurzelrevolution Nr. 275, Januar 2003, S. 1, 7 www.graswurzel.net/275/train.shtml

[19] Bernd Drücke: Renaissance der Anti-Atom-Bewegung? Tausende demonstrierten gegen den Dresden-Ahaus-Castor, in: Graswurzelrevolution Nr. 301, Sommer 2005, www.graswurzel.net/301/ahaus.shtml

[20] Matthias Eickhoff: Anti-Atom-Demo zeigt Wirkung, in: Graswurzelrevolution Nr. 317, März 2007, S. 4