Dokumentation: radikal Nr. 132, Juli 1986. "Pfingsten in Wackersdorf". In: Schwarze Texte, S. 89-94

Flyer: tach zusammen. über die situation der radikal nach der nr. 139 und erklärungen zur radi-pause. o.J.

Erste Stellungnahme der Schwarz-Roten Hilfe Münster zu den Durchsuchungen und Verhaftungen in Münster im Kontext der radikal-Verfahren im Juni 1995

Schwarz-Rote Hilfe Münster zu den Ereignissen am 13.06.1995

Pressemitteilung der Schwarz-Roten Hilfe Münster zur Kundgebung und Demo anlässlich der Verhaftungen am 13.06.95

Chronologie der Ereignisse rund um die radikal-verfahren

Artikel: zu den Verfahren vom 13.06.95

Aufruf zur Kundgebung und Demonstration in Karlsruhe gegen den Anschlag auf linke Strukturen

Artikel: Rainer muss raus aus der isohaft! Zu den Durchsuchungen und Festnahmen in Münster und anderswo am 13.06.1995. In: Apoplex Nr. 3 vom Juli 1995.

Kurznachricht: Rainer ist entlassen. zum radikal-Verfahren mit Münster-Lokal-Bezug. In: Apoplex Nr. 9 vom Januar 1996.

Artikel zu Repression und Durchsuchungen in Münster und anderswo. radikal-verfahren. In: Interim Nr. 339 vom 6. Juli 1995. Öffentliche Stellungnahme vom Unrast Kollektiv

Artikel: Sofortige Freilassung von Rainer, Ömer und allen anderen politischen Gefangenen! Für freie polituische Kommunikation und Diskussion! In: Interim Nr. 342 vom 17.08.1995, S. 16 und 17

Artikel: Zum Stand der radikal-Verfahren vom 13.06.1995 in Münster. In: Interim Nr. 385 vom 11.1.1996

Artikel: Zur Geschichte der radikal

 

radikal (radi)

Aktualisierter Textauszug aus: Bernd Drücke, Zwischen Schreibtisch und Straßenschlacht? Anarchismus und libertäre Presse, Verlag Klemm & Oelschläger, Ulm 1998, 640 Seiten, S. 181-190. Siehe: http://www.graswurzel.net/laden/

 

„Die Gesellschaft ist ein einziger Gefahrenherd.“[1]

Horst Herold, BKA-Chef, 1977.

 

„Zensurmaßnahmen sollen die öffentliche Meinung vor Äußerungen schützen, welche die bestehende Ordnung gefährden könnten: die Herrschafts-, Autori­täts- und vor allem Eigentumsverhältnisse. Da­bei wird die Unmündigkeit und das Schutzbedürfnis be­stimmter ge­sellschaftlicher Gruppen gegenüber solchen Äußerungen unterstellt. Von dieser Vorstellung ausgehend, zielt Zensur auf die Entmündi­gung der Mehrheit der Be­völkerung. Zensurmaßnahmen sollen die öf­fentliche Erläuterung von Konflikten ein­schränken, um Autoritäts- und Loyali­tätsverluste einzudämmen und rückgängig zu ma­chen.“[2]

Michael Kienzle/Dirk Mende, 1980.

 

„Die Zeitschrift radikal ist seit Jahren das beiweitem auflagen­stärkste Organ der terroristischen Untergrundpresse.“[3]

Generalbundesanwalt Prof. Dr. Kurt Rebmann, 1989.

 

Die Geschichte der radikal liest sich wie ein Krimi.

Im Juni 1976 erschien mit dem Untertitel „Sozialistische Zeitung für Westber­lin“ und einer Kontaktadresse im Westberliner Sozialisti­schen Zentrum die erste Ausgabe, durchgängig gesetzt und als jour­nalistische und politische Alternative zur Flugblattsammlung Info-BUG.[4]

Die zunächst zweiwöchentlich publizierte radikal wurde konzipiert als Infor­mationsträger, Diskussionsforum und „praktisches In­stru­ment im Dienst grund­sätzlich aller antikapita­listi­schen Gruppen in West-Berlin.“[5] Als Her­ausgeber fungierte der Radikal Verlag und ab 1977 die Gruppe A Berlin.

1978 wurden die ersten Verfahren gegen die radikal eingeleitet. Als Aufhänger diente u.a. der Nachdruck des zuvor in Göttin­gen krimi­nalisierten „Mescalero-Nachrufs“, in dem „klammheimliche Freude“ über den Tod des am 7. April 1977 von der RAF in Karls­ruhe er­mordeten Generalbundesanwalts Siegfried Buback geäußert wurde. Der presserechtlich Verantwortliche der radikal wurde des­halb zu einer Geldstrafe von 875 DM verurteilt.

Ab Nr. 69/1979 übernahm der neu gegründete Verein „Zeitungskooperative e.V.“ die Verantwortung für die zu diesem Zeitpunkt mit einer Auflage von 3.000 Exemplaren publizierte radikal.

1980 wurde die radikal zu einem Diskussionsor­gan der Hausbeset­zerInnens­zene Westberlins, die um die Jahres­wende 1980/81 mit zeitweilig über 160 in­standbesetzten Häusern in West­berlin einen ersten Höhepunkt erreichte und bundesweite Ausstrah­lung hatte.[6]

Das Konzept der Zeitschrift war zu diesem Zeitpunkt „offen“; wer wollte, konnte die Redaktion anrufen oder montags und donnerstags in die Berliner Ei­sen­bahnstr. 4 gehen und sich dort an der Erstellung der Publikation beteiligen.

So beschrieb die Redaktion der radikal Nr. 85/1980 ihre Motivation:

„Die 68er Opas haben immer noch nicht begriffen, daß wir nicht für die Öffent­lichkeit kämpfen, sondern für uns. Und zwar nicht gegen einen 'Mißstand', son­dern für ein selbst­bestimmtes Leben in allen Bereichen. Autonomie, aber su­bito! (…) Wir machen Aktionen nicht für die tierisch-ernste Revo­lution, son­dern weil's Spaß macht.“[7]

Um der drohenden staatlichen Repression entgegenzutreten, traten ab der Nr. 88/1981 Gruppen wie die AKW-Gruppe Wedding, das Forum entwicklungspo­litischer Gruppen, der Libertad Verlag, die Initiative gegen den Hochsicher­heitstrakt bis hin zur Alternativen Liste Berlin, der taz und vielen anderen als Mitherausgeber in Er­scheinung.

Ab der Nr. 90/1981 erschien radikal statt im DIN A4 nun im DIN A3-Format. Innerhalb des Redaktionskollektivs wechselte bei jeder nun monatlich erschei­nenden Ausgabe die presserechtli­che Verant­wortlichkeit. Auch die Un­tertitel änderten sich in jeder Ausgabe: „Zeitung gegen den freiwilligen Rückzug in die Reser­vate“ (Nr. 99/Nov./Dez. 1981), „Zeitung für unkon­trollierte Bewegungen“ (Nr. 108/Sept. 1982), „Zeitung für den run auf die Bahamas“ (Nr. 121/Okt. 1983) u.v.a.

1982 wurden 14 Privatwohnungen, zwei besetzte Häuser, drei Druckereien, zwei Buchläden und eine Buchvertriebsstelle, ein Verlag und eine Fotosetzerei in Berlin durchsucht, weil die Dokumentation von Texten der Revolutionären Zellen den Straftatbestand des „Werbens für eine terroristische Vereinigung“ (§129a/Abs.3 StGB) erfüllen sollte.

Die radikal hatte sich zum auflagenstärksten Sprachrohr der auto­nomen Bewe­gung entwickelt und überregionale Bedeutung erlangt.

„Vor allem in ihrer Koordinationsfunktion für die Bewegung sollte die Zeitung durch massive Einschüchterung zerschlagen werden.“[8]

Nach dem Erscheinen der „Zeitung für Entkrampfung“ (Untertitel der radikal Nr. 117) wurden im Juni 1983 Michael Klöckner und Benny Härlin festge­nom­men. Obwohl sich auch in der Anklage­schrift keine konkreten Hinweise für die Beteiligung des Studenten Klöckner und des Jour­nalisten Härlin an der Herstel­lung der inkri­minierten Ausgabe fan­den[9], wurden die beiden Vor­standsmitglie­der des „Zeitungskooperative e.V.“ unter Isolations­haftbedingungen im Unter­suchungsgefängnis Berlin-Moabit inhaf­tiert. Die unkom­men­tierte Dokumenta­tion einer Erklärung der Re­volutionären Zel­len in der radikal, so die Begrün­dung für die Fest­nahmen, sei eine „Werbung für eine terroristische Ver­einigung“ und somit nach § 129a, Abs. 3 StGB strafbar.

„Weil man an die verantwortlichen Redakteure nicht herankam, hielt sich Ober­staats­anwalt Przytarski an die Herausgeberliste von radi­kal und piekte sich zwei heraus: Mi­cha Klöckner und Benny Här­lin…“[10]

Das Verfahren löste eine breite Solidaritätsbewegung aus. In einer u.a. von der Bundestagsfraktion der Grünen, der Kreuzberger SPD und den Schriftstellern Robert Jungk, Peter Schneider, Hans Mag­nus Enzensberger und Günter Grass unterzeichneten Erklärung, wurde kritisiert, daß fünfzig Jahre nach der national­sozialistischen Bücherverbrennung in Deutschland wieder eine vermeintliche Ge­fährdung des Staates wichtiger genommen werde, als die Freiheit des Wor­tes.

„Wie 1978 im Verfahren gegen die Agit-Drucker - die nach § 129a für das bloße Druc­ken einer Zeitung verurteilt wurden ! - folgen Anklage und Haftbe­fehl dem Prinzip: wenn Leute, denen man straf­rechtlich relevante Taten nach­weisen könnte, nicht zu er­mitteln sind, hält man sich einfach an diejenigen, die vor vier Jahren einen einge­trage­nen Verein gegründet haben.“[11]

Nachdem eine Kaution gezahlt worden war, erhielten Härlin und Klöckner im August 1983 eine an Auflagen gebundene Haftver­schonung. Christian Ströbele und Rainer Elferding, die Rechtsanwälte ihres Vertrauens durften sie nicht im Prozeß vertreten. Ihre Bei­ord­nung als Pflichtverteidiger wurde abgelehnt, da Ströbele ein­schlägig vorbestraft und Elferding in einem Verfahren vor dem Landgericht Berlin einen Polizeibeamten tätlich angegriffen habe.[12]

Vergebens versuchte die „Vereinigung Berliner Strafverteidiger“ gegen die Zu­weisung von Pflichtverteidigern, denen die Angeklag­ten kein Vertrauen entge­genbrachten, zu intervenieren. Sie forderte die freie Wahl der Verteidiger durch die Angeklagten, die Aufhe­bung der Haftbefehle und die Selbstablehnung des zuständigen Richters Dieter Palhoff.[13]

Im Oktober 1983 wurde das Büro der radikal durchsucht, zwei Leute ange­troffen und Material beschlag­nahmt.[14]

Der 6. Strafsenat des Berliner Kammergerichts verurteilte die An­geklagten we­gen „öffentlicher Aufforderung zu Straftaten“ (§ 111 StGB), „Billigung von Straftaten“ (§ 140 StGB) und „Werbung für eine terroristische Vereinigung“ (§ 129a, Abs. 3 StGB) im März 1984 zu einer Gefängnisstrafe von jeweils zwei­einhalb Jahren ohne Be­währung. Der Richter Palhoff hielt es in der mündlichen Urteilsbe­gründung für entscheidend, daß die Angeklagten „irgendwie an der Verteilung der Zeitschrift radikal mitgewirkt“[15] hätten.

Nach der Urteilsverkündung wurden neben zwei Druckereien auch die Woh­nungen der bei der Razzia im Oktober 1983 angetroffenen Menschen durch­sucht. Es wurde „sämtliche an die Zeitungskoope­rative eingehende Post am Postfach beschlagnahmt und jemand beim Versuch, dasselbe zu öffnen, abge­griffen; Begründung: 'Herstellung der radikal'. (…) Der Rest läßt sich am be­sten mit den Worten des ersten Zuständigen in der Sache erklären: 'Ich habe sie lange genug beobachten lassen, daß sie es merken und vielleicht dadurch davon ablassen.' (Staatsanwalt Przytarski in der taz vom 3.5.).“[16]

Die Grünen engagierten sich für die beiden Verurteilten in der Form, daß diese ins Europa-Parlament gewählt wurden und somit durch die gewonnene diplo­matische Immunität ihre Haftstrafen nicht an­treten mußten. „Auch die Jusos verteidigten die Pressefreiheit, in­dem sie die radikal öffentlich verkauften.“[17]

Im März 1984 erschien mit dem Untertitel „Fachblatt für alles, was Terroristen Spaß macht“ die letzte in Berlin her­ausgegebene Ausgabe: radikal Nr. 126/127.

„(…) Bewegung ade, die Zeitung hat ihren Rhythmus verloren. Die Fre­quenzen oszilieren zwischen (…) Öffnung und Konspirativität; Lust am Zeitungmachen und Sicherheitsdisziplin; Aufhören, weil das Ding in keinem Verhältnis mehr zur greifbaren Gefahr steht und Weitermachen, weils unerträglich wäre, dem Druck der Repression nachzugeben (…). Aufhören - eine andere Zeitung - eine andere radi (…) Heute sind wir selber als Mythos er­starrt, haben oft versucht, das Vergangene in die Gegenwart zu projezieren, wohl wissend, daß wir nur mit der künstlichen Spritze aus Trotz und Stolz am Leben erhalten werden. Noch zeichnen die Oszillographen einen schwachen Herzimpuls, doch der Staatsan­walt soll uns nicht daran hindern, den Stecker sel­ber rauszuziehen, wenn uns danach ist. (…) Eure Zeitung für Zer­störung und Wiederge­burt. Noch nie war sie so wertvoll wie heute - denn zumindest für eine Weile gehen die Lichter aus. (…) uns gehört die Nacht?“[18]

Ein neues anonymes Redaktionskollektiv brachte im Sommer 1984 mit dem Untertitel „Anleitung für den Herzinfarkt von Staat und Staatsanwalt“, mit einer Auflage von 6.000 Exemplaren und einem Umfang von 52 gedruckten DIN -A3 Seiten in Zürich die radikal Nr. 128 her­aus:

„So Leute, habt ihr also gedacht, es wäre zu Ende mit der radi­kal…Habt ihr sie schon auf der Liste der von 'Verfassungsorganen' totgeprügelten linken Initiati­ven angekreuzt und archiviert… Wir wollen nicht verhehlen, daß das Frohloc­ken darüber, der Repres­sion ein Schnippchen geschlagen zu haben einen guten Teil der Motivati­on bei der Pro­duktion dieser Nummer ausgemacht hat.“[19]  

Von nun an war die konspirativ und unregelmäßig herausgebrachte radikal nur noch schriftlich über wechselnde Postfachadressen in Dänemark, Österreich, der Schweiz und den Niederlanden zu errei­chen.

1986 wurden auf Veranlassung der Bundesanwaltschaft von der in zwei Teil­heften herausgebrachten 80 DIN A4-Seiten umfassenden radikal Nr. 132 insge­samt 1713 Exemplare und damit „mehr als die Hälfte der nach polizeilichen Er­kenntnissen in den Versand gelang­ten 3357 Stücke beschlagnahmt.“[20]

Bundesweit wurden mehr als 100 Privatwohnungen, Infoläden, au­tonome Zen­tren und Buchhandlungen durchsucht, „um die legale Vertriebsstruktur der ra­dikal zu kriminalisieren.“[21] Gegen 192 Menschen, denen vorgeworfen wurde, die radikal Nr. 132 verkauft zu haben, wurden Ermittlungsverfahren nach § 129a Abs. 3 StGB eingeleitet, 38 Anklagen wurden erhoben, 12 Pro­zesse fan­den statt.  Sieben Angeklagte wurden freigesprochen und fünf Men­schen wur­den schließlich zu Bewährungsstrafen verurteilt. Ein „Mehrfachbezieher“ wurde zu sieben Monaten Haft auf vier Jahre Bewährung verurteilt.

Die Oldenburger Gruppe „Solidarität ist eine Waffe“ analysierte dieses Vorge­hen folgendermaßen:

„Mit dieser Maßnahme sollte nach der Illegalisierung der Herstel­lung auch der Verkauf der Zeitung nicht länger möglich sein. Die meisten Buchläden kön­nen/wollen es nicht länger riskieren, die ra­dikal zu verkaufen; wenn sie es den­noch tun, ist dies nur unter dem Ladentisch möglich.“[22]

Praktisch bedeute die Illegalisierung von Herstellung und Verkauf ein tatsächli­ches Verbot des Periodikums. Das Verbot bedeute darüberhinaus, daß denjeni­gen, die die Zeitung lesen wollen, der Zugang erheblich er­schwert werde.

Der Generalbundesanwalt Rebmann beurteilte 1989 in der Märzaus­gabe der NStZ (Neue Zeitschrift für Strafrecht) das Vorgehen gegen die radikal.[23] Unter Berücksichtigung der bei exe­kutiven Maßnahmen gewon­nenen Erkennt­nisse, insbesondere auf radikal Nr. 132, schätzten die Sicherheitsbehörden die durchschnitt­liche Auflagenstärke auf zwi­schen 4.000 und 5.000 Exemplare. Da die Zeitschrift auch im Fotokopierverfahren von Hand zu Hand weiter­verbreitet werde, liege die Zahl der regelmäßigen Le­serInnen erheb­lich darüber. Der Lese­rInnenkreis umfasse „alle Gruppierungen des link­sterroristischen Spektrums“ und reiche „bis in weite Teile des link­sextremistischen Spektrums.“

Zwar sei über die veränderten Herstellungsmodalitäten und die ge­genwärtige Zusammensetzung des Redaktionskollektivs bislang nichts bekannt, den Verfol­gungsbehörden seien aber seit Sommer 1986 wiederholt Einbrüche in das Ver­triebssystem gelun­gen.

„In dem gegen die unbekannten Hersteller und Erstverbreiter von radikal ge­führten Ermittlungsverrfahren des GBA wegen Unterstüt­zung terroristischer Vereinigungen u.a.. konnte z.B. die Ausgabe radikal Nr. 132 zu einem großen Teil (…) beschlag­nahmt wer­den.“[24] 

Auch die seit radikal Nr. 128 erschienenen Ausgaben seien „maßgeblich von dem für die Ideologie und Strategie der 'Revolutionären Zellen' typischen Ge­dankengut geprägt.“[25]

In der radikal werde „der billigenden und fördernden Darstellung 'militanter' Aktivitäten und Ziele autonomer Gruppierungen“ breiter Raum eingeräumt. Die Verlautbarungen reichten von einer Solidari­tätsadresse an die RAF über den Teilabdruck eines Strategiepapiers der Revolutionä­ren Zellen und der Wieder­gabe einer Anleitung zum Bau eines elektrischen Zeitzünders durch die Grup­pierung Hau weg den Scheiß Sektion West, die sich wiederholt zu Spreng­stoffan­schlägen bekannt hatte, bis hin zu „verherrlichenden Darstellungen des mili­tanten Wider­standes in Wackersdorf“. In dem Artikel „Pfingsten in Wac­kersdorf“ sei die Vorbildhaftigkeit der Zerstörung von Polizei- und Baufahr­zeu­gen, der Beschädigung von Stromma­sten und des Schleuderns von Molotow-Cocktails auf Polizeibeamte suggeriert worden. In ei­ner Vielzahl von Beiträgen würden Strafta­ten als nach­ahmenswert dargestellt; so werde z.B. in dem Artikel „Mehr mili­tante Aktionen“ zur Plünderung von Kaufhäu­sern aufge­fordert.[26]

Obwohl nahezu alle Ausgaben der radikal nach ihrem Erscheinen kriminalisiert wurden, erschien sie ab 1986 durchschnittlich dreimal jährlich mit in der Regel zwei Teilheften und einem Umfang von bis zu 120 Seiten. 1989 publizierten die Edition ID-Archiv und die Konkret schriftlich geführte Interviews mit Redak­teurInnen der radikal

Bis Sommer 1995 wurden 150 Ermittlungsverfahren ge­gen die ra­dikal einge­leitet.[27]

Am 13. Juni 1995 wurden bundesweit mehr als 80 Privatwohnun­gen, linke und feministische Projekte durchsucht.

Die Razzien wurden mit der angeblichen „Mitgliedschaft und/oder Unterstüt­zung einer kriminellen/terroristischen Vereinigung“ wie AIZ, K.O.M.I.T.E.E. bzw. radikal  begründet. Vier angebliche Re­dak­teure der radi­kal wurden ver­haftet.

„Die neue Dimension dieser §129a - Aktion ist, Redaktionsarbeit selbst als Tä­tigkeit einer sog. 'kriminellen Vereinigung', deren Zweck das Begehen von Straftaten sei, hochzustilisieren.“[28]

Die ermittelnden Behörden hatten im Frühjahr 1993 eine Abhörak­tion in einem Ferienhaus in der Eifel gestartet und waren dort im September 1993 auf ein an­gebliches radikal-Redaktionstreffen ge­stoßen. Die Teilnahme daran warfen sie den Angeklagten vor. 

Im November 1995 tauchte, trotz der Inhaftierung von vier angebli­chen Redak­teuren (bis Dezember 1995) die auf zwei Hefte verteilte „Ente“ radikal Nr. 153 auf.

Im „Kein Ende mit Ente - Intro“ schrieb die Redaktion:

„Achtung, aufgepaßt, wenn ihr an Weihnachten zu einem knuspri­gen Entenbra­ten eure FreundInnen über Telefon einladet, denn die BAW könnte dies evtl. als radi-Redaktionstreffen auslegen. Ver­trauen wir auf die heißen Informationen, die der Spiegel seinen Le­sern und Leserinnen vor einigen Wochen zum Fraß hingeworfen hat, dann heißt die radi nämlich nicht radi, sondern Ente, zumin­dest an jenem Herbstwochenende beim 'Big Bang in Wanderath', so überti­telte der Spiegel nämlich seine Story zur plastischen Beschreibung des Lauschan­griffs. (…) Wir nehmen den Vorschlag der BAW auf und haben die Ente als unser zukünftiges Maskottchen auser­koren (sonst wären wir ja auch ein schlechter Vereinigung (sic!)) und gleich un­sere Titelseite entsprechend ge­staltet. Die Einschußlöcher oberhalb der Ente symbolisieren die BAW-Schüsse von 1986 und jetzt vom 13.6.95 - hättet ihr das erraten?“[29]

 

Nachtrag und Resümee  

31 Jahre radikal

 

Die radikal war in den 1980er und 90er Jahren ein wichtiges überregionales Sprachrohr der HausbesetzerInnen- und anderer sozialer Bewegungen, und zugleich die am heftigsten kriminalisierte Zeitschrift in Westeuropa.

Es gab unzählige Razzien, Ermittlungsverfahren und Prozesse, vermeintliche radikal-Redakteure wurden in Isolationshaft gesperrt, und 1995 versuchte der Staat sogar das in den Untergrund gedrängte Diskussionsorgan der autonomen Szene mit Hilfe des Paragraphen 129 StGB zur „kriminellen Vereinigung“ zu erklären. Seitdem ist es relativ still geworden. In den letzten zwölf Jahren erschienen nur sieben Ausgaben. Und der „Gebrauchswert“ für Akti­vistInnen wurde auch durch den Nachdruck längst z.B. bei indy­media oder in der Berliner Flugblattsammlung Interim veröffentlichter Texte nicht gerade gesteigert.

„Dass es die radikal trotz Repression aber noch gibt, ist schon ein Erfolg, ein kleiner Sieg über den autoritären Staat“ [30], so die Graswurzelrevolution-Redaktion im Januar 2007. Und so wird in der im Dezember 2006 erschienenen radikal Nr. 160 - „Zeitung für den brodelnden Untergrund“ - auch ausgiebig am widerständigen „Mythos radikal“ gestrickt. In der 80seitigen Ausgabe (Preis: 4 Euro) finden sich u.a. erweiterte und aktualisierte Nachdrucke aus dem Buch „20 Jahre radikal“, Beiträge zur Mobilisierung gegen den G8-Gipfel 2007 in Heiligendamm, ein Aufruf zur Sabotage, Artikel über Repression in Griechenland und Deutschland.

 

Bernd Drücke (aktualisiert im Mai 2007)

 

Anmerkungen:

 

Postadresse: N.N., Van Ostadestraat 233N, NL-1073 TN Amsterdam. Innerer Umschlag: Z.K.

 

Buch:

* 20 Jahre radikal, Assoziation A, Unrastverlag u.a., Hamburg, Berlin, Münster 1997

 


[1] Horst Herold, in: Himmel & Erde Linksradikale Revue Nr. 1, Verlag Roter Funke, Bremen, Sept. 1980, S. 7.

 

[2] Michael Kienzle/Dirk Mende:  Zensur in der BRD. Fakten und Analysen, München 1980, S. 33.

 

[3] Generalbundesanwalt Prof. Dr. Kurt Rebmann, Karlsruhe, in: radikal Nr. 137, Amsterdam, Mai 1989, S. 3.

 

[4] Zur Entstehungsgeschichte der radikal bis 1985 siehe: Holger Jenrich, Anarchistische Presse in Deutschland 1945-1985, Trotzdem, Grafenau, S. 157 f.

 

[5] radikal, 1. Jhg., Nr. 1, West-Berlin 1976, S. 2.

 

[6] Siehe IX.1

 

[7] radikal Nr. 85/1980, a.a.O.

 

[8] radikal - Chronologie einer Repressionsgeschichte, in: Interim Nr. 339, Berlin, 6. Juli 1995, S. 7.

 

[9] Konkret (Neue Folge), Hamburg, 10. Jhg., Nr. 7/1983, S. 46.

 

[10] Annette Wilmes: "Knallharte Justiz - Prozeß gegen Härlin und Klöckner wird verschleppt", in: Blickpunkt, 32. Jhg., 316/1983, S. 46.

 

[11] Presseerklärung zum Fall Härlin/Klöckner, in: Blickpunkt, 32. Jhg., Nr. 314/315/1983, S. 4.

 

[12] Annette Wilmes, a.a.O.

 

[13] Ebd.

 

[14] Vgl. "Frohe Botschaft - Der Kampf geht weiter", in: radikal Nr. 128, Zü­rich, Sommer 1984, S. 2.

 

[15] Annette Wilmes: "Harte Urteile - Moabiter Richter verbiegen Grundrechte", in: Blickpunkt, 33. Jhg., Nr. 324/1984, S. 33.

 

[16] "Frohe Botschaft - der Kampf geht weiter", a.a.O.

 

[17] Gruppe "Solidarität ist eine Waffe": "So radikal wie die Wirklichkeit II : Zu den Durchsuschungen und Festnahmen am 13. Juni", in: alhambra Zeitung und Programm Juli 1995, Oldenburg, S. 3 ff.

 

[18] Am Anfang steht das Ende sonst wäre das Neue das Alte, in: radikal Nr. 126/127, Berlin, März/April 1984, S.  3 - 4.

 

[19] "Frohe Botschaft - der Kampf geht weiter", a.a.O.

 

[20] Generalbundesanwalt Prof. Dr. Kurt Rebmann, a.a.O.

 

[21] Für eine vielfältige Widerstandpresse, in: Interim Nr. 345, Berlin, 28. 9. 1995, S. 23.

 

[22] Gruppe "Solidarität ist eine Waffe": "So radikal wie die Wirklichkeit : Zu den Durchsuchungen und Festnahmen am 13. Juni", a.a.O., S. 5.

 

[23] Vgl. Generalbundesanwalt Prof. Dr. Kurt Rebmann, Karlsruhe, a.a.O.

 

[24] Generalbundesanwalt Prof. Dr. Kurt Rebmann, ebd.

 

[25] Ebd.

 

[26] Vgl. ebd..

 

[27] Vgl. Jürgen Gottschlich: Happy Birthday, Haftbefehl!, in: taz, Berlin, 14./15. Okt. 1995, S. 17.

 

[28] Für eine vielfältige Widerstandspresse, in: A-Kurier Nr. 80, Berlin, Okt. 1995, S. 1.

 

[29] Kein Ende mit Ente - Intro, in: radikal Nr. 153, Amsterdam, Nov. 1995, S. 3.

 

[30] Vgl. 30 Jahre radikal, in: Graswurzelrevolution Nr. 315, Januar 2007, S. 5