Referat: Die „anderen“ Archive

Franz-Werner Kersting[1]

 

Geschichte und Überlieferung von unten.

Die „anderen“ Archive aus der Sicht des Historikers[2]

 

Liebe Frau Dr. Happ,

sehr geehrter Herr Dr. Speck,

meine sehr geehrten Damen und Herren,

liebe Kolleginnen und Kollegen!

 

Lassen Sie mich die aufliegende Folie 1 [Foto Spinne ‚Schwarze Witwe’. Autonome Frauenforschungsstelle Münster] mit folgendem Eingangszitat unterlegen:

 

„Die Spinne ‚an sich’ besitzt kostbare Fähigkeiten: Sie kann ihr Netz überall hinweben, auch dorthin, wo es den Menschen manchmal nicht passt. Manche Arten können sogar ihre Spinnweben in die Luft absondern und darauf zu anderen Orten schweben. Der Name ‚Schwarze Witwe’ trifft deshalb als Symbol unser Selbstverständnis: Das Vernetzen, das Aufgreifen, das Verknüpfen und Weiterspinnen bestehender ‚Fäden’.

Gemeint ist damit aber auch das Spinnen mit der Bedeutung, andere verrückte Sicht- und Handlungsweisen zuzulassen und der Phantasie freien Lauf zu lassen.

Das Spinnen im Sinne von handwerklicher Garnherstellung repräsentiert darüber hinaus ein Frauenhandwerk, das auf eine lange Tradition zurückblicken kann.

Die Spinnenart ‚Schwarze Witwe’ im besonderen hat neben den geschilderten köstlichen Fähigkeiten eine ganz besondere Eigenschaft, die vor allem die Männerwelt stets erschreckt zusammenzucken lässt. Ausgerechnet nach dem Geschlechtsakt frisst die weibliche Spinne das Männchen mit Haut und Haaren auf. Da die Bisse der Spinne für ihre männlichen Artgenossen tödliche Folgen haben, steht ihr Name als Symbol für unsere Arbeit, den Kampf gegen patriarchale Herrschaftsverhältnisse und -strukturen.

Bewusst haben wir ein unbestreitbar provozierendes Symbol für unser feministisches Selbstverständnis gewählt...“ (Soweit das Zitat)

 

Diese Selbstdarstellung ist einer frühen Broschüre der „Frauenforschungsstelle Münster [e.V.]“ entnommen. Die 1986 gegründete Einrichtung firmierte zunächst zwanzig Jahre lang unter dem Label „Schwarze Witwe. Autonome Frauenforschungsstelle Münster“. 2006 nannte sie sich dann in „D.I.W.A. Frauenforschungsstelle Münster“ um [Folie 2: 1. Seite ihrer Homepage], wobei „D.I.W.A.“ als Abkürzung für „Dokumentation - Information - Wirkung – Austausch“ steht. Das in „Schwarze Witwe“ anklingende ‚Autonom-Rebellische’ ist also mit „D.I.W.A.“ offenkundig einer – wenn Sie so wollen – Mischung aus ‚Anmut’ und ‚neuer Sachlichkeit’ gewichen!

Die Struktur des neuen Labels ähnelt überdies auch dem Namen des „Dachverbandes deutschsprachiger Frauen/[und]Lesbenarchive-, -bibliotheken und –dokumentationsstellen“. Denn dieser 1994 gegründete Verband nennt sich „i.d.a.“, was für „informieren – dokumentieren – archivieren“ steht.

Hervorgegangen aus der Idee feministischer, öffentlicher und praxisbezogener Selbsthilfe außerhalb etablierter universitärer und kommunaler Strukturen, war und ist die Münsterische Frauenforschungsstelle nicht nur Bibliothek und Archiv, sondern auch – und vor allem – eine lebensweltlich ausgerichtete und verankerte Anlauf- und Kommunikationsstelle. Im Niederländischen gibt es für die verschiedenen Archive, Bibliotheken, Forschungs- und Dokumentationsstellen der Frauen- und Lesbenbewegung den weiten Sammelbegriff der „Fraueninformationseinrichtungen“. Der Begriff würde auch die Stelle hier in Münster gut kennzeichnen, die zudem in einem Haus mit vielen anderen gesellschaftlich-kulturellen Initiativen und Anlaufstellen untergebracht ist [Folie 3: Foto/Wegweiser: Von „2. Etage“ oben bis unten „cuba cultur“]. Der materielle Überlieferungsschwerpunkt von D.I.W.A. liegt eindeutig auf den beiden Feldern „Bibliothek“ und „Sammlungsgut“ [jetzt Folie 4: Bücher/Regalwand; Folie 5: „DornRosa......Lesbenstich“; Folie 6: Regal mit Videokassetten; Folie 7: Ordner Zeitungsartikel § 2189]

 

Sicher nicht zufällig hat ein weiteres Münsterisches Bewegungsarchiv, das ich hier eingangs ebenfalls kurz vorstellen möchte, eine ganz ähnliche Adresse. In der hiesigen Scharnhorststr. befindet sich das „Interkulturelle Zentrum Don Quijote“, eine Art Begegnungsstätte und „Infoladen“. [Folie 8: Aussenansicht Scharnhorstr. 57/IKZ Don Quijote; Folie 9: Foto Regal/Ständer mit kleinen „Aufklebern“, u.a. „Atomkraft nein“]. Und in den Räumen von „Don Quijote“ ist auch das umfangreiche so genannte „Umweltzentrum-Archiv“ untergebracht. [Folie 10: Foto Blick ins Archiv/in Flurgang] Die Sammlung ist aus und mit den politischen Aktivitäten des 1980 vom damaligen Münsterischen „Arbeitskreis Umwelt“ (abgekürzt: AKU) gegründeten „Umweltzentrums“ entstanden. Mittlerweile ist ein Ende 2004 aus ehemaligen und aktuellen Aktivisten und Freunden des Umweltzentrums hervorgegangener Trägerverein [„Umweltzentrum Archiv e.V.“]  zusammen mit der Ladengruppe „Don Quijote“ für den Archiv- und Bibliotheksbetrieb zuständig. Anders als D.I.W.A., die „mehr schlecht als recht“ am Tropf des städtischen Kulturhaushalts hängt, finanziert sich das Umweltzentrum-Archiv ausschließlich durch Spenden (dies freilich ebenfalls immer in einem eher  ‚bescheidenen’ Umfang).

 

Im Übrigen war der Archivverein auch an dem Projekt „münsters GESCHICHTE VON UNTEN“ beteiligt, das im vergangenen Jahr als Teil der internationalen Großausstellung „skulptur projekte münster“ viel Beachtung gefunden hat. Im Zentrum des Projekts stand eine von der Frankfurter Künstlerin Silke Wagner geschaffene Skulptur des Münsteraners Paul Wulf (1921-1999) [Folie 11: Foto der Skulptur]. Diese Skulptur wurde gleichzeitig während der Ausstellung im monatlichen Rhythmus wie eine Litfasssäule immer wieder neu mit Dokumenten aus dem Umweltzentrum-Archiv plakatiert. Wulfs Biographie stand und steht für erlittene nationalsozialistische Verfolgung und Zwangssterilisation, aber auch für unermüdliche, linke, lebensgeschichtlich-lokale Aufklärungsarbeit gegen das Vergessen und für Entschädigung, Wiedergutmachung und soziale Gerechtigkeit!

 

Diese Beteiligung eines freien linken Archivs an der renommierten Münsterischen „skulptur projekte“-Ausstellung ist nach meinem Eindruck von der kunstinteressierten Öffentlichkeit wenn überhaupt, so nur am Rande registriert worden. Noch unbekannter dürfte sein, dass durch das Gemeinschaftsprojekt zwischen Trägerverein und Künstlerin auch die Gestaltung der neuen Webseite des Archivs sowie die Digitalisierung erster Materialbestände angestoßen wurde [Folie 12: 1. Seite Internetauftritt/Homepage UWZ-Archiv]. Der materielle Überlieferungsschwerpunkt liegt auch im Umweltzentrum-Archiv klar auf den beiden Feldern „Sammlungsgut“ und „Bibliothek“, und der inhaltliche Focus wird von den Themen und Schlagworten Umwelt, Anti-Atom-Bewegung, Hausbesetzungen (oder auch „Häuserkampf“), politische Zensur und „Kriminalisierung“, Internationalismus, Antifaschismus und Anarchismus bestimmt. [Folie 13: Ordner „RAF – Kriminalisierung“; Folie 14: Ordner „Friedensbewegung in Münster – Antimilitarismus“; Folie 15: Ordner „Beijing Rundschau- Internationalismus“]

 

Neben D.I.W.A. und Umweltzentrum-Archiv lassen sich hier in Münster derzeit noch fünf weitere Einrichtungen der alternativen, nicht-staatlichen Bewegungs-, Bibliotheks- und Überlieferungsszene (mit ihren unterschiedlichen Mischformen) zurechnen:

 

-der vor allem entwicklungspolitisch engagierte Verein „Vamos“;

-die Sammlung „Rosa Geschichten“ des „KCM [Kommunikations Centrum Münsterland] Schwulenzentrums Münster [e.V.]“;

-das von Studierenden gegründete und betriebene „Archiv für Sicherheits- und Entwicklungspolitik [e.V.]“ (abgekürzt: ASE];

-die „Dokumentationsstelle für Gefangenenliteratur“ am Institut für Deutsche Sprache und Literatur der Universität (die hier Teil einer „Arbeitsstelle Randgruppenkultur/-literatur“ ist); sowie schließlich

-der von einem sich „autonom-anarchistisch“ verstehenden „Kollektiv“ betriebene „INFOLADEN BANKROTT“!

 

Auf dem diesjährigen „Tag der Archive“, zu dem der VdA ja bekanntlich am 1. und 2. März unter dem Motto „Heimat und Fremde“ bundesweit aufgerufen und die Türen seiner Einrichtungen für ein durchaus breites interessiertes Publikum geöffnet hatte, war hier in Münster, soweit ich sehe, keiner der insgesamt 7 alternativen Zirkel präsent (auch nicht D.I.W.A. und Umweltzentrum-Archiv). Schon der lokale Einladungsflyer [Folie 16: Rechte Vorderseite und linke Rückseite zusammen] lenkte die Aufmerksamkeit ausschließlich auf die etablierten, staatlichen und kirchlichen Archive der Stadt (also: Bistumsarchiv, Landesarchiv NRW - Staatsarchiv Münster und Technisches Zentrum, LWL-Archivamt für Westfalen, Stadtarchiv und Universitätsarchiv).

Ausweislich der offiziellen Teilnehmerliste des VdA dominierten die etablierten Einrichtungen mehrheitlich auch andernorts eindeutig das Tagesgeschehen. Immerhin gab es aber doch einige Ausnahmen: Unter anderem zeigte in Berlin auch das „Archiv Demokratischer Sozialismus der Rosa-Luxemburg-Stiftung“ Flagge, in Leipzig das „Archiv der Arbeitsgemeinschaft Jugendliteratur der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft“, in Düsseldorf das „Archiv und [die] Sammlung des Künstlervereins Malkasten“ und in Kassel das „Archiv der deutschen Frauenbewegung“. In Bremen waren gleich mehrere „Archive von unten“ mit beteiligt – darunter auch das Frauen-Kultur-, Kommunikations- und Bildungszentrum „belladonna“. „belladonna“ wollte ihre/seine Türen an dem Tag aber offenbar nur für Frauen öffnen!

Vertreterinnen und Vertretern von D.I.W.A. und Umweltzentrum-Archiv, mit denen ich kürzlich vor Ort jeweils Informationsgespräche führen konnte, war wiederum der „Tag der Archive“ als Einrichtung und mögliche öffentliche Plattform gar kein Begriff!

 

Die knappen Beobachtungen rund um den Tag der Archive verweisen auf immer noch deutlich vorhandene Schranken zwischen alternativer und amtlicher Trägerschaft von Archiven sowie auf ein offenkundig fortbestehendes, ja teils krasses öffentliches Bedeutungs- und Wahrnehmungsgefälle zwischen beiden Überlieferungsträgern und –schwerpunkten. (Dabei leiden Akzeptanz und Resonanz der „anderen“ Archive freilich sicher auch unter ihrem vergleichsweise begrenzten „single purpose“-Profil.) Besonders deutlich spiegelt sich das Gefälle natürlich im Alltag der „anderen“ Archive. Er war und ist vielfach durch chronische Finanz-, Personal- und Raumnot, ehrenamtliche Selbstausbeutung sowie Abwicklungen oder Schließungen geprägt.

„Die angesprochenen Schranken und Schieflagen gilt es abzubauen!“, so lautet mein Plädoyer (als Historiker). Dieses Plädoyer am Schnittpunkt von Geschichtswissenschaft und amtlichem wie freiem Archivwesen möchte ich im Folgenden etwas vertiefen. Angesichts des begrenzten Zeitbudgets kann das freilich in vielem nur mehr skizzen- und thesenhaft erfolgen.

 

Sechs Punkte, Überlegungen oder Hinweise sind mir dabei besonders wichtig:

 

Erstens: Es gibt in dem hier behandelten Problem- und Handlungsfeld ein grundsätzliches Spannungsverhältnis zwischen Theorie und Praxis. 1980 stellte der Historiker Lutz Niethammer einem – „Lebenserfahrung und kollektives Gedächtnis. Die Praxis der ‚Oral history’“ betitelten – Sammelband die engagierte Aussage voran (ich zitiere): „Eine demokratische Zukunft bedarf einer Vergangenheit, in der nicht nur die Oberen hörbar sind.“ Über diese – damals noch eher programmatisch verstandene - Maxime besteht mittlerweile im Grunde ein breiter wissenschaftlicher Konsens. Und das heute erweiterte Selbstverständnis der staatlichen Archive als „Kulturelles Gedächtnis der Gesellschaft“ könnte man durchaus auch als komplementär zu der zitierten Losung Niethammers verstehen.

Im Zeichen dieser veränderten Großwetterlage sind sich Geschichts- und Archivwissenschaft wie –praxis mittlerweile auch weitgehend einig über die große Bedeutung der nichtamtlichen Überlieferungen von unten – auch und gerade aus alternativen oder unkonventionellen Kontexten (Stefan Sudmann). Ohne sie wäre die Wirklichkeit der modernen pluralistischen Gesellschaft nicht hinreichend in der archivischen Überlieferung und damit auch im kulturellen Gedächtnis abgebildet und verankert. Aber wie schon gesagt: Die tatsächlichen staatlichen und freien Archivverhältnisse hinken diesem Anspruch erheblich hinterher.

 

Dabei werden – zweitens – die materiellen Spielräume für eine Verbesserung dieser Situation eher noch enger (Stichworte: „knappe Kassen“, „Bürokratieabbau“, „Verschlankung“ der Archivbestände, „reduzierte Aufgabenwahrnehmung“).

 

Um so wichtiger scheint es - drittens -, dass beide Seiten, staatliche und „andere“ Archive, künftig mehr voneinander wissen und so möglicherweise auch zu einer stärker arbeitsteiligen (und damit gleichzeitig kostengünstigeren) „Überlieferungsbildung im Verbund“ (Kretzschmar) bereit sind. (Stichwort u.a.: „Synergie“-Effekt durch Vermeidung oder Abbau unnötiger Mehrfachüberlieferungen). Dass mit der heutigen Vormittagssektion auch die „spezielle Problematik der Überlieferung in Archiven sozialer Bewegungen“ einen eigenen Tagungspunkt bildet, werte ich als einen wichtigen Schritt hin zu mehr wechselseitiger Wahrnehmung und Kommunikation. Für den Fall verbesserter Beziehungen sehe ich freilich auch die Gefahr einer professionellen Dominanz oder ‚Majorisierung’ vonseiten der etablierten Archivszene.

 

Im konkreten Arbeitsalltag kann eine stärkere Annäherung – viertens - wohl am ehesten über Themenstellungen gelingen, die auf der aktuellen Agenda sowohl der zeithistorischen Forschung wie auch der gesellschaftspolitischen Diskussion stehen und damit die mögliche Schnittmenge zwischen den Interessen der beteiligten Akteurinnen und Akteure vergrößern: Der Umgang von Staat und Gesellschaft mit Minderheiten und Randgruppen, nationale und globale Formen von Protest und Gewalt, die Rolle alternativer Bewegungen und Lebensformen (keineswegs nur links-grüner Provenienz), die Selbst- und Fremdwahrnehmung staatlicher und gesellschaftlicher Akteure und Gruppen - so oder so ähnlich könnten entsprechende Themen lauten.

 

Aus Sicht der Zeitgeschichte gewinnen diese Themen vor allem in dem Maße an Bedeutung, wie die angelaufene Historisierung der „Hochwassermarke 68“ (W. Damberg) weiter ausdifferenziert und vertieft sowie insbesondere auch systematisch in die 1970er und 80er Jahre hinein ‚verlängert’ wird. Zwei ganz unterschiedliche Beispiele mögen dies praktisch veranschaulichen [Folie 17: Titelbild Siegfried-Buch]: Die 2006 erschienene, mittlerweile als Standardwerk geltende jüngste Studie des Historikers Detlef Siegfried „Time Is on My Side. Konsum und Politik in der westdeutschen Jugendkultur der 60er Jahre“ basiert nicht zuletzt auf der gezielten Nutzung alternativer nichtamtlicher Überlieferungen. Gleiches gilt [Folie 18: Titelseite Mag.Arb. Bönsch] für eine im vergangenen Jahr entstandene lesenswerte Magisterarbeit über „Hausbesetzer in Münster: Öffentliche Meinung und Agenda-Setting“. Die Verfasserin (Jessica Bönsch) hat unter anderem Quellen aus dem Umweltzentrum-Archiv ausgewertet. [Folie 19: Ordner „Münster Allerlei“; zugleich Folie/Hintergrund für den Rest des Vortrags!!]

 

[‚Abhängigkeit’ der alternativen Archive/Überlieferungen von Relevanz und Stellenwert speziell der Gesellschafts- und Kulturgeschichte unter Historikern/innen. D.h.: Wer diese Perspektive nicht einnimmt/verfolgt, wird wohl auch kaum ein Archiv sozialer Bewegungen aufsuchen!]

 

Die beiden gezeigten Beispiele können zu einer fünften Bemerkung überleiten, die sich um den Faktor „Generation“ dreht: Allmählich wächst eine jüngere Generation von Forscherinnen und Forschern, Archivarinnen und Archivaren, nach, die kaum noch oder gar nicht mehr selbst unmittelbar von der gleichermaßen facetten- wie konfliktreichen Protest- und Bewegungsgeschichte der Bundesrepublik geprägt ist. Sie kann einen mehr analytischen „zweiten Blick“ auf die historischen Ereignisse werfen und auch unbefangener auf Zeitzeuginnen und Zeitzeugen zutreten (Stichwort „Oral History“).

Umgekehrt kommen die Akteure und Akteurinnen von damals, die „Protest-Geprägten“ wie die „Protest-Geschädigten“, nach und nach in ein Alter, wo das Bedürfnis nach zeithistorischer Verortung und Deutung der eigenen Biografie zunimmt - und damit auch die Sensibilität für den möglichen Überlieferungs- und Quellenwert der eigenen Bewegungs- und Nachlassunterlagen.

Beide Rahmenbedingungen zusammen mögen ebenfalls zu einem Abbau der überkommenen „Lagerbildung“ und Abstufung zwischen etabliertem und alternativem Archivwesen beitragen. (Eine Frage an Herrn Hüttner wäre, ob diese Einschätzung/Erwartung evtl. nicht doch zu ‚optimistisch’ ist!?)

 

Sechste und letzte Überlegung/Anmerkung:

Viele „andere“ Archive verfügen ja – wie eingangs auch am Beispiel Münster kurz hervorgehoben – weniger über „wirkliches Schriftgut“ (also Korrespondenzen, Akten, Sitzungsprotokolle, Tagebücher usw.), sondern mehr über so genanntes „Sammlungsgut“ (in Form von Flugblättern, Broschüren, Zeitschriften, Plakaten, Fotos, Filmen, Tonbändern, graue Literatur usw.). Was in diesem Sinne aus ‚traditioneller’ Archivsicht’ vielleicht eher als ‚Schwäche’ oder ‚Mangel’ erscheinen mag, kann man im Zeichen der aktuellen Ausweitung des geschichtswissenschaftlichen Blickwinkels auf Fragen der „neuen Kulturgeschichte“ (Stichwort „cultural turn“) auch als ausgesprochene ‚Überlieferungsstärke’ sehen! Der „cultural turn“ dreht sich ja stark um Begriffe und Phänomene wie „Erfahrung und Wahrnehmung“, „Selbst- und Fremdbilder“, „Öffentlichkeit“ und „symbolische Kommunikation“. Dabei werden nicht zuletzt auch Foto und Film als Quelle neu entdeckt und gedeutet.

 

 

Soweit meine knappen Beobachtungen und Anmerkungen zum Thema! Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit!

 


[1] Wissenschaftlicher Referent am LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte in Münster und außerplanmäßiger Professor für Neuere und Neueste Geschichte am Historischen Seminar der Universität Münster; E-Mail: franz-werner.kersting@lwl.org

 

[2] Vortrag auf der Frühjahrstagung „Quellen der 1968er Zeit“ der Fachgruppe 8 (Archive der Hochschulen sowie wissenschaftlicher Institutionen) im Verband deutscher Archivarinnen und Archivare e.V. (VdA) vom 2.-3. April 2008 in Münster.

Referat: Die „anderen“ Archive (Fotos)