Beispiele politischer Zensur und Kriminalisierung von Texten in Deutschland von 1968 bis heute

Schwerpunkt Münster

„Zensurmaßnahmen sollen die öffentliche Meinung vor Äußerungen schützen, welche die bestehende Ordnung gefährden könnten: die Herrschafts-, Autori­täts- und vor allem Eigentumsverhältnisse. Da­bei wird die Unmündigkeit und das Schutzbedürfnis be­stimmter ge­sellschaftlicher Gruppen gegenüber solchen Äußerungen unterstellt. Von dieser Vorstellung ausgehend, zielt Zensur auf die Entmündi­gung der Mehrheit der Be­völkerung. Zensurmaßnahmen sollen die öf­fentliche Erläuterung von Konflikten ein­schränken, um Autoritäts- und Loyali­tätsverluste einzudämmen und rückgängig zu ma­chen.“[1]

Wer sich mit „Zensur und Kriminalisierung“ beschäftigt, kommt um eine Eingrenzung dieses umfassenden Themas nicht herum. In diesem Artikel soll es vor allem um die mit Entstehung der Außerparlamentarischen Opposition (APO) ab 1967/68 und die danach entstandenen, von Repression betroffenen, alternativen und libertären Printmedien gehen. Dargestellt werden Beispiele aus der Geschichte der Bundesrepublik ab 1968 und der Stadt Münster ab 1980, dem Gründungsjahr des Münsteraner Umweltzentrums

Die Dokumentation von Texten „terroristischer Vereinigungen“ (z.B. Rote Zora, Revolutionäre Zellen und/oder RAF) oder die Veröffentlichung von Texten, in denen Blockaden u. ä. direkte Aktionen diskutiert wurden, oder Forderungen nach Zusammenlegung politischer Gefan­gener dienten oft als Begründung für die Verfahren nach § 111 (Öffentliche Aufforderung zu Straftaten), 129 (Bildung krimineller Vereinigungen), 129a (Bildung terroristischer Vereinigungen) und 130a (Anleitung zu Straftaten) StGB.

In den Jahren 1980 bis 1996 wurden bundesweit gegen mehr als 6.000 Menschen Verfahren nach § 129a StGB eingeleitet - in fast 80 % der Fälle ging es um „Unterstützung“ und „Werbung“ für terroristische Vereinigungen.[2]

Beispiele politischer Zensur und Kriminalisierung von Texten in Deutschland ab 1968

Große Teile der Außerpar­lamentarischen Opposition (APO) versuchten 1967/68 eine Gegenöffentlichkeit herzustellen gegen den von den USA geführ­ten und von der Bundesregierung und dem Großteil der Medien in der Bundes­republik unterstützten Vietnamkrieg, gegen die Notstandsgesetze der Großen Koalition und die vom Springer-Konzern do­minierte Presse, gegen „verkrustete Institutionen“ und deren Träger, gegen überkommene Werte, Normen und Moralvorstellungen. Die neolibertäre Bewegung machte ab Februar 1968 publizistisch auf sich auf­merksam und gründete bis heute mehr als 800 verschiedene Periodika.[3]

Als „erste antiautoritäre Zeitung“[4] verstand sich Linkeck, das Sprach­rohr der Ende 1967 gegründeten Kommune gleichen Namens. Mit Auflagen bis 8.000 Stück, antiklerikalen, staats- und SDS-feindlichen Collagen, Fotos, Cartoons und Texten von Bakunin und der Kommune Linkeck erschien das Berliner Blatt ab Mai 1968 neunmal. Linkeck wurde bundesweit bekannt, u. a. aufgrund von Artikeln gegen das „linke Terrorblatt“ in der Bild-Zeitung. Vier angebliche Linkeck-Herausgeber wurden wegen „Beleidigung“ und „Verbreitung unzüch­tiger Schriften“ verurteilt.[5] 1969 zerbrach die Kommune, und ihr provokantes Unter­grundblatt wurde einge­stellt. Ähnlich aufgemacht wie Linkeck kam ab Februar 1968 alle 10 bis 14 Tage die agit 883 mit Auflagen bis 7.000 Stück heraus. Dieser Informati­onsdienst der Berliner Linken fungierte als „Flugschrift für Agitation und soziale Pra­xis“ (Untertitel) und beschäftigte sich mit aktuellen Ereignis­sen. Im Mai 1970 erscheint in der agit 883 die erste öffentliche Erklärung der RAF unter der Überschrift „Die Rote Armee aufbauen“. Zu diesem Zeitpunkt war die agit 883 ein weitgehend unzensiertes Diskussionsorgan verschiedener, vor allem mi­litanter linksradikaler Gruppen. Bis Juli 1970 wurde das Szeneblatt dann fünfmal beschlag­nahmt oder verboten. Nach 88 Nummern stellte die agit 883 am 16. Februar 1972, nach mehreren redak­tionsinternen Konflikten, ihr Erscheinen ein. Das Redaktionskollektiv hatte sich bereits 1971 an der Beurteilung der RAF gespalten. Ehemalige agit 883 Redakteure, u. a. Knofo und Peter Paul Zahl, verließen nach diesem Richtungsstreit das Kollektiv[6] und gründeten 1971 in Berlin die mili­tante Untergrundzeitschrift FIZZ.

Die aktions- und pra­xisorientierte FIZZ aus dem Sozialisti­schen Zen­trum, soli­darisierte sich - im Gegensatz zur zeit­gleich herausge­kom­menen agit 883 - mit der RAF, propagierte den Aufbau einer Stadtguerilla und ver­öffentlichte anarchisti­sche Texte, Poster u. a. von Michail Bakunin, Ulrike Meinhof und An­dreas Baader, Bauanleitungen für Molotowcocktails, antiklerikale Comics, u. v. a. FIZZ erschien ein Jahr lang, neun der zehn heraus­gekomme­nen Ausgaben wurden beschlagnahmt, verboten und ver­folgt.

Das ab 1973 her­ausgegebene und häufig inkriminierte Info-BUG (Info Berliner Undogmatischer Gruppen) erschien als zusammen­geheftete Text- und Flugblatt­sammlung zunächst wöchentlich und nach der Kri­minalisierung unre­gelmäßig. Weil auch zahlreiche Erklärungen der westeuropäischen Guerillagruppen im Info-BUG dokumentiert wurden, leiteten die Staatsschutzbehörden 1977 zahl­reiche Ermittlungsverfah­ren gegen das Projekt nach § 129a StGB[7] u. a. ein. Während des „Deutschen Herbstes 1977“ ging es dem Info-BUG, wie vielen Alternativblättern, die versuchten, die staatlich verordnete Informations­sperre zu durchbrechen; sie wurden inkriminiert und konnten nicht mehr legal erscheinen. Das Info-BUG erschien bis zur Einstellung im Früh­sommer 1978 (Nr. 194) verdeckt. Währenddessen erschien, konzipiert als>legales Pendant zum Info-BUG,>von Herbst 1977 bis 1978 das BUG-Info, das ebenfalls durch Ermittlungsverfahren und Prozesse eingeschüchtert wurde. Am 12. Februar 1979 verurteilte der vierte Strafsenat des Berli­ner Kammergerichts einen Druc­ker der AGIT-Druckerei zu einer Haftstrafe von zwölf und drei weitere Drucker zu jeweils neun Monaten Gefängnis. Ihnen wurde vorge­worfen, sie hätten das Info-BUG gedruckt. Das Urteil beruhte auf den Straftatbeständen „Befürwortung von Straftaten“, „Öffentliche Aufforde­rung zu Straftaten“, „Werbung für terroristische Vereinigungen“ und „Billigung von Straftaten“.

Die siebziger Jahre waren geprägt durch einen Gründungsboom alternativer Projekte.

Bundesweit entstanden Szene-Zeit­schriften, wie z. B. MAD in Hamburg und  Blatt in München

Die seit 1976 erscheinende Zeitschrift radikal entwickelte sich zur am häufigsten kriminalisierten Zeitschrift in der Geschichte der Bundesrepublik.[8] Bis zur Einstellung der Verfahren im  September 1997 versuchte die Bundesanwaltschaft die radikal als „kriminelle Vereinigung“ einzustufen.

Bundesweit von Überwa­chungs- und Repressionsmaßnahmen betroffene Alternativmedienprojekte [9] in den 1980er und 1990er Jahren (eine Auswahl)

  • Freiraum:>Von>1984 bis 1989 werden mehrere Ermittlungsverfahren nach §§ 90a, 111 und 129a gegen die „anarchistische zeitung“ aus Bayern eingeleitet und zahlreiche Exemplare beschlagnahmt.
  • Radi Aktiv: Von 1985 bis 1990 werden mehrere Ermittlungsverfahren nach §§ 90a, 111 und 129a  StGB gegen das  autonom-libertäre „bayrische Anti Atom Magazin“ eingeleitet. Es kommt zu Razzien und Prozessen.
  • Die Schwarz-Rote: 1987 wird gegen das Fuldaer Anarchoblatt ein
  • Ermittlungsverfahren nach § 129a StGB eingeleitet. Daraufhin löst sich die Redaktion auf.
  • Aktion: 1988 werden Ermittlungsverfahren wegen „Werbens für die terroristische Vereinigung Rote Zora“ (§ 129a) gegen das überregionale „anarchistische Magazin“ aus Frankfurt/M. eingeleitet.
  • libertäres Regionalinfo NRW: 1988, nach einer Razzia und Beanstandung nach § 129a wird das Erscheinen der anarchistischen Info­sammlung aus Krefeld eingestellt.
  • Sabot: 1989 wird gegen einen vermeintlichen Redakteur des autonomen „Hamburger Info(s)“ eine einjährige Haftstrafe wegen „Werbens für eine terroristische Vereinigung“ ausgesprochen. Ein halbes Jahr bleibt er unter isolierten Verwahrbedingungen in Haft. Nach weiteren Razzien und 30 weiteren Ermittlungsverfahren nach § 129a stellt die Redaktion ihr Erscheinen ein.
  • Kriminalisierungsrundbrief: 1989, nach Razzien, Ermittlungsverfahren nach § 129a und einer Denunziation, wird das Postfach in Kassel aufgelöst und der Redaktionssitz der autonomen Flugblattsammlung bis zur Einstellung 1992 nach Amsterdam verlegt. 
  • Auf-Ruhr: 1989 wird ein § 129a Verfahren gegen die autonome Infosammlung aus Bochum eingeleitet.
  • Ausbruch: Von 1989 bis 1991 werden mehrere Razzien gegen die autonome „zeitung aus freiburg“ mit § 129a-Verfahren begründet.
  • agitare bene: Von 1989 bis 1991 werden mehrere Razzien und Ermittlungsverfahren nach § 129a gegen das Kölner Info eingeleitet.>
  • Clash: 1990, nach einer Razzia und einem Verfahren nach § 129a, wird die Kontaktadresse der internationalen Zeitschrift der Infoläden in Hamburg aufgelöst und nach Amsterdam verlegt.
  • Alhambra: 1991, Razzia und Beanstandung der autonom-libertären Oldenburger Szenezeitschrift nach § 129a.
  • südwind: 1991, Razzia und Beanstandung der autonom-libertären „zeitschrift für den mittleren neckarraum“ nach § 129a.
  • RAZZ: 1992 wird ein Ermittlungsverfahren nach § 129a gegen die „Zeitung für ein radikales Hannover“ eingeleitet.
  • in ALLERhand: 1994 wird eine Razzia im Neubrandenburger Infoladen mit der Inkriminierung der autonom-libertären Neubrandenburger Infosammlung nach § 111 StGB begründet.
  • Anarchistische Internet Zeitung (AIZ): 1996, nach öffentlichem Druck wird der Internet-Zugang durch die Universität Jena ge­sperrt und dem gewaltfrei-anarchistischen Herausgeber die Zwangsexmatriku­lation angedroht.
  • bambule: 1996 kommt es zur Razzia und Inkriminierung der anarchistischen Bremer Infosammlung nach § 129a wegen Abdruck eines Anti-Castor-Flugblattes.
  • göttinger Drucksache: Am 7. April 1997 wird eine Hausdurchsuchung mit einem Ermittlungsverfahren nach § 111 StGB gegen diese autonom-libertäre Wochenzeitschrift begründet. Mit dem Abdruck eines Anti-Castor Artikels in der Nr. 252 habe die Redaktion zur Beschädigung von Poli­zeifahrzeugen aufgerufen.[10]
  • Interim: Im Juni 1997 wird eine Großrazzia mit 500 bis 1.000 BeamtInnen in Berlin mit einem Verfahren nach § 111 StGB (Abdruck eines Anti-Castor-Flugblattes und Anleitung zur Herstellung von „Wurfankern“) begrün­det.
  • Terz: Im Sommer 1998 wird gegen „Düsseldorfs Stattzeitung“ ein Ermittlungsverfahren wegen angeblicher „öffentlicher Aufforderung zu Straftaten“ und „Verstoß gegen das Landespressegesetz“ eingeleitet.[11]

Politische Zensur und Kriminalisierung von Texten in Münster. Eine unvollständige Chronologie (ab 1980)

September 1980: Durchsuchung des Münsteraner Umweltzentrums nach inkriminierten Asterix und das Atomkraftwerk-Comics wegen Verstoß gegen das Urheberrechtsgesetz und das Warenzeichengesetz.

15. Mai 1981: Durchsuchung des ROSTA-Buchladens in Münster nach der Broschüre Wenn wir zusammen kämpfen (zum Hungerstreik politischer Gefangener in der BRD und zum Kampf der IRA und INLA in Irland). Die Broschüre wird nicht gefunden, dafür werden verschiedene linke Zeitungen beschlagnahmt. Gegen die Inhaberin des Buchladens wird ein Verfahren nach § 129a StGB eingeleitet.[12]

27. Oktober 1983: Das Umweltzentrum Münster wird zwei Stunden lang von sieben Beamten des Landeskriminalamts durchsucht. Gegen die drei Vorstandsmitglieder des Umweltzentrum e.V. wird ein Ermittlungsverfahren nach § 129a StGB wegen kommentarlos abgedruckter Bekennerbriefe der Revolutionären Zellen in der Zeitung Venceremos – „Zeitung für eine zündende Idee“ Nr. 2 eingeleitet. Die Verfahren werden später eingestellt.[13]

Juli 1986 bis Februar 1987: Bundesweite Durchsuchung von über 100 Buchhandlungen, Infozentren und Privatwohnungen auf der Suche nach den unbekannten Herstellern und Vertreibern der radikal Nr. 132. Betroffen sind auch das Umweltzentrum Münster und der Münsteraner Buchladen ROSTA.

1987: Die von der Münsteraner VoBo-Ini (Volkszählungsboykott-Initiative) angebotenen Broschüren Restrisiko Mensch werden beschlagnahmt. Die in der Broschüre enthaltene Aufforderung, die Kennnummern aus den Volkszählungsbögen zu schneiden, rufe öffentlich zu Straftaten auf (§ 111 StGB). Gegen mehrere Mitglieder der Münsteraner Volkszählungsboykott-Initiative werden Ermittlungsverfahren eingeleitet. Die Gerichtsverfahren enden mit Geldstrafen gegen die VolkszählungsboykotteurInnen.

1987 und 1988: Aus Anlass der Papstbesuche in Münster organisiert die Anarchistisch Libertäre Initiative (Alibi) 1987 die „1. Münsteraner Antiklerikale Woche“ und 1988 die „2. Münsteraner Antiklerikale Woche“. Es werden Ermittlungsverfahren wegen vermeintlicher „Beschimpfung von Bekenntnissen, Religionsgesellschaften und Weltanschauungsvereinigungen“ (§ 166) gegen mehrere Referenten und das Stadtblatt eingeleitet. Grund für die Kriminalisierung des Stadtblatts sind zwei aus dem Satireblatt Titanic nachgedruckte Pabst-Cartoons: „Ich komme“ und „Ich komme schon wieder“.

7. Januar 1992: Das Umweltzentrum Münster und die UWZ-Druckerei werden durch­sucht. Sieben Stunden lang suchen 80 PolizistInnen, BKA- und LKA-Be­amte nach Hinweisen auf „Verfasser, Herausge­ber, Her­steller und Verbreiter der Druck­schrift unfassba Nr.7/8“.[14] Trotz einem breiten Bündnis von 90 Grup­pen[15], von der Ka­tho­lischen Studie­ren­den Gemeinde Mün­ster bis zum Initiativ­kreis Hafenstraße Hamburg, das gegen die Durchsuchungen pro­testier­t, werden wei­tere Aus­gaben der unfassba, Nr. 9, 10, 11 und 18, mit Hilfe der §§ 111, 129a und 130a StGB inkri­miniert.[16]

Vom 7. bis zum 9. Mai 1992 treffen sich die Wirtschafts- und Handelsminister der sieben mächtigsten Industriestaaten (G 7) und der GUS in Münster. Anlässlich dieses Treffens wird eine „Extraausgabe“ der Westfä­lischen Nachrichten (WN), die der Tageszeitung gleichen Namens in Format und Layout täuschend ähnlich sieht, publiziert. In dem Fake wird eine „Sensationelle Wende auf dem Münsteraner Wirtschaftsgipfel“ verkündet: „Die sieben führenden Wirtschaftsnationen beschließen heute in Münster, den armen Ländern ihre Schulden zu erlassen. Geplant ist darüber hinaus der größte finanzielle Transfer der Weltgeschichte. Mit einem Billionen-Dollar-Programm und einem 'Weltsolidarfond' wollen die Wirtschaftsminister die Wirtschaft der armen Länder auf selbständige Füße stellen.“[17] Der Aschendorff Verlag, in dem die Westfälischen Nachrichten erscheinen, erstattet Strafanzeige gegen die unbekannten Herausgeber des WN-Fakes.[18]

Im Frühjahr 1994 werden der Semesterspiegel Nr. 277, Zeitung der Studierenden an der Uni Münster, und die Zeitung des Münsteraner Uni-AStA Links vom Schloss wegen „unzulässiger allgemeinpolitischer Äußerungen“ vom Oberverwaltungsgericht inkriminiert.

Der Semesterspiegel Nr. 277, Januar 1994 (S. 7), enthält unter der Überschrift „Bundesinnenminister Kanther verbietet ‚Arbeiterpartei Kurdistans’ PKK“ ein Interview, in dem die Situation der kurdischen Bevölkerung im Allgemeinen und die der PKK im Besonderen unter Beleuchtung der zwischenstaatlichen Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und der Türkei erörtert werden.

Ebenso wenig Bezug zu einer hochschulbezogenen Thematik weise der im AStA Magazin Links vom Schloss erschienene Artikel „Wie ich mal bei der RAF war” (S. 6 ff.) auf.

Im Oktober 1994 erscheint eine Ausgabe der seit 1989 an der Uni Münster herausgegebenen Sputnik – „Zentralorgan der Fachschaftsvertretung Soziologie/SoWi“, in der überwie­gend Artikel zu verschiedenen gesellschaftlich relevan­ten Themen ab­gedruckt werden. Drei von sechzehn DINA4Seiten werden geschwärzt. Im März 1995 erscheint die zweite, von Libertären gemachte Ausga­be der Sput­nik, irreführend als Nummer 1 deklariert. Diesmal werden fünfzehn von zwanzig Seiten geschwärzt.. Beide Ausgaben werden wegen „unzulässiger allgemeinpolitischer Äußerungen“ zensiert.

13. Juni 1995  Durchsuchung einer Wohngemeinschaft in Münster. Ein angeblicher Re­dak­teur der radi­kal Nr. 152 wird wegen „Mitgliedschaft und/oder Unterstüt­zung einer kriminellen/terroristischen Vereinigung“ verhaftet.

1999/2000 wird gegen den Münsteraner Koordinationsredakteur der Graswurzelrevolution (GWR) Nr. 239 (April 1999) und 90 UnterzeichnerInnen eines Blockade- und Desertionsaufrufs zum Jugoslawienkrieg strafrechtlich nach § 111 StGB ermittelt. Das Propagieren direkter Aktionen hatte der „Monatszeitung für eine gewaltfreie, herrschaftslose Gesellschaft“ zuvor schon mehrere Ermittlungsverfahren eingebracht, z. B. wegen des in der GWR Nr. 110 (Dez. 1986) abgedruckten Artikels „Wenn der Strommast fällt … - Überlegungen zu Sabotage als di­rekte gewaltfreie Aktion“.

Das Propagieren direkter gewaltfreier Aktionen brachte der Graswurzelrevo­lution mehrere Ermittlungsverfahren nach § 111 StGB[19] we­gen „öffentlicher Auf­forderung zu Straftaten“ ein. Wegen des in der Graswurzelrevolution Nr. 110 (Dez. 1986) abgedruckten Artikels unter der Überschrift „Wenn der Strommast fällt … - Überlegungen zu Sabotage als di­rekte gewaltfreie Aktion“ wird im April 1987 das erste Verfahren eingeleitet. 1999 wird gegen den Koordinationsredakteur der GWR Nr. 239 und 90 UnterzeichnerInnen eines Blockade- und Desertionsaufrufs während des Kosovo-Kriegs ebenfalls strafrechtlich nach § 111 StGB ermittelt.[20]

8. Januar 2003 Prozess gegen einen Münsteraner Kriegsgegner vor dem Amtsgericht Münster. Die Anklage: „Billigung von Mord“.[21] Telepolis, das „Magazin für Netzkultur“, hatte im Juni 2002 einen satirischen Artikel über ein Kriegsmassaker im afghanischen Mazar i Sharif veröffentlicht. Monatelang beschäftigt der Internet-Beitrag Polizei, Staatsanwalt und Amtsgericht. In fünf Bundesländern wurde ermittelt.

„Der Prozess hatte realsatirischen Charakter. (...) Die Staatsanwaltschaft war miserabel vorbereitet. Trotz der umfassenden Ermittlungen war sie nicht in der Lage, vor dem Prozess die von ihr inkriminierte Parodie im Kontext zu lesen. (...) Während des Prozesses erbat sich der Staatsanwalt Lesezeit, was im Publikum Gelächter auslöste. Nachdem er die Texte (...) dann im Zusammenhang studiert hatte, (...) zog er die Anklage zurück und plädierte auf Freispruch. Die Richterin schloss sich dem an.“[22]

Bernd Drücke


[1] Michael Kienzle/Dirk Mende:  Zensur in der BRD. Fakten und Analysen, München 1980, S. 33.

[2] Vgl. Christian Füller/Christian Rath: Die RAF-Sondergesetze sind fällig, in: taz Nr. 5513, Berlin, 22. April 1998, S. 1.

[3] Vgl. Holger Jenrich, Anarchistische Presse in Deutschland 1945 – 1985, Trotzdemverlag, Grafenau 1988; Bernd Drücke, Zwischen Schreibtisch und Straßenschlacht? Anarchismus und libertäre Presse in Ost- und Westdeutschland, Verlag Klemm & Oelschläger, Ulm 1998

[4] Linkeck Reprint, Karin Kramer Verlag, Berlin, 1989, S. 3.

[5] Vg.: Bernd Drücke (Hg.): ja! Anarchismus. Gelebte Utopie im 21. Jahrhundert. Interviews und Gespräche, Karin Kramer Verlag, Berlin 2006

[6] Vgl. 883, in: FIZZ Nr. 10, Berlin, Frühjahr 1972, S. 3.

[7] Vgl. Anhang.

[8] Siehe Bernd Drücke, Zwischen Schreibtisch und Straßenschlacht, a.a.O.:, S. 181 ff.

[9] Ebd.

[10] Vgl. Razzia gegen „göttinger Drucksache“, in: Contraste Nr. 152, a.a.O., S. 3.

[11] Vgl. Ermittlungen gegen die Terz und Kriminalisierung der Antifa, in: Terz Nr. 6/98, Düsseldorf, Juni 1998, S. 2.

[12] Vgl.: Arbeiterkampf (AK) Nr. 204, Hamburg, 22. Juni 1981

[13] Vgl.: Schwarze Texte, a.a.O., S. 70 ;  Kriminalisierung, Dokumentation, Umweltzentrum, Münster 1984, S. 46 ff.

[14] Ermittlungen gegen Umweltzentrum, in: MZ, 8. Jan. 1992, S. 1.

[15] Vgl. Unfassba Nr. 12/13, Kopenhagen, Sommer 1992, S. 2.

[16] Vgl. Subversives Blätterrauschen, a.a.O.

[17] Sensationelle Wende auf dem Münsteraner Wirtschaftsgipfel, in: Westfälische Nachrichten Ex­trablatt (Fake), Münster, 8. Mai 1992, S. 1.

[18] Bericht vom Ost-West-Wirtschaftsgipfel in Münster vom 7. - 9.5.92, in: Unfassba Nr. 12/13, a.a.O., S. 10.

[19] Siehe Anhang.

[20] Vgl.: Töten im Krieg erlaubt - Aufruf zur Fahnenflucht verboten? Staatsanwaltschaft Berlin ermittelt gegen Graswurzelredakteure und AntimilitaristInnen, in: Graswurzelrevolution Nr. 244, Dezember 1999, S. 1f. http://www.graswurzel.net/244/fahnenflucht.shtml

Vgl.: Siebzehn und vier. Der Stand der Prozesse und Verfahren gegen GWR und AntimilitaristInnen, in: Graswurzelrevolution Nr. 247, März 2000, www.graswurzel.net/247/17_4.shtml

[21] Bernd Drücke: Prozess gegen Kriegsgegner wegen „Billigung von Mord“. Gerichtsposse: PISA-Katastrophe erreicht Juristerei, in: Graswurzelrevolution Nr. 276, Februar 2003, http://www.graswurzel.net/276/tp.shtml

[22] Ebd.